Wenn wir heute das Wort „Freudenmeister” hören, denken wir wohl an etwas ganz anderes als Johann Franck, der Textdichter des Kirchenliedes Jesu, meine Freude. Franck bezieht den Ausdruck auf Jesus, der die „Trauergeister” des irdischen Lebens verscheucht und die himmlischen Freuden des Paradieses verspricht. Johann Sebastian Bach hat das Kirchenlied, dessen Melodie von Johann Crüger stammt, in seiner grossartigen Choralmotette BWV 227 vertont.

Bachs Motette Jesu, meine Freude bildete den einen Schwerpunkt des Konzerts in der Kirche St. Johann in Davos. Den anderen stellte das Streichquartett in A-Dur, op. 41 Nr. 3 von Robert Schumann dar. Doch wie passt dies zusammen: eine geistliche Vokalkomposition und ein kammermusikalisches Werk in ein und demselben Konzert? Am Davos Festival ist dies eben möglich. Zum einen, weil Intendant Marco Amherd originelle Programmkonzepte liebt, zum andern, weil die jungen Musikerinnen und Musiker oft mehrere Tage in Davos weilen und an verschiedenen Darbietungen mitwirken. Unter dem Motto „Perspektivenwechsel” waren nun also das Ensemble Vokalzirkel und das Barbican Quartet im Wechsel zu hören.
Der in München beheimatete Vokalzirkel nennt sich „solistisches Klangkollektiv”, was besagt, dass die Mitglieder sowohl solistische wie auch chorische Erfahrung mitbringen. Schnell zu hören war dies bei Bachs doppelchöriger Motette Fürchte dich nicht, wo jeder und jede eine eigene Stimme zu singen hatte. Einen Dirigenten brauchte das Ensemble nicht. Und auf die Begleitung eines Continuo-Instruments, die Bach zwar nicht notiert hat, die aber gängiger Aufführungspraxis entsprach, wurde ebenfalls verzichtet. Danach ein krasser Szenenwechsel: Das Barbican Quartet – drei Musikerinnen und ein Musiker aus vier Nationen – stellte sich mit dem unbekannten Stück The Ear of Grain der bulgarischen Komponistin Dobrinka Tabakova vor. Die gemässigt moderne Komposition gab dem Quartett Gelegenheit zu Klangzauber und, im Mittelteil, zu heftigem Aufbegehren.
Wieder zurück zu Bach und dem Vokalzirkel. Auch die Motette Jesu, meine Freude wagte das Ensemble als reine A-cappella-Komposition vorzutragen, was punkto Intonation bei einer Dauer von zwanzig Minuten eine respektable Leistung ist. Die elf Sätze der Motette bestehen zum einen aus Variationen der Choralmelodie, zum andern aus freien Stücken, die textlich einem Abschnitt des Römerbriefes des Apostels Paulus entstammen. „Ihr aber seid nicht fleischlich, sondern geistlich”, heisst es im sechsten Satz, der die Mitte der streng symmetrischen Komposition bildet. Die Realisierung mit nur acht Stimmen sorgt, im Gegensatz zu Aufführungen mit grösseren Chören, für wohltuende Transparenz. Sie birgt jedoch auch Risiken, hörte man doch manchmal Koloraturen, die nicht ganz perfekt gemeisselt waren oder Einzelstimmen, die etwas unmotiviert herausragten. Ausgezeichnet war die Textverständlichkeit, wie denn überhaupt der rhetorische Charakter der Interpretation sehr überzeugte. Ein Highlight bot der Satz Gute Nacht, o Wesen, wo die schlichte Choralmelodie der beiden Altistinnen von einem kontrapunktischen Duett der zwei Sopranistinnen und einer schreitenden Unterstimme des Tenors umrahmt wurde.
Schumanns drei Streichquartette Opus 41 aus dem Jahr 1842 sind die erste Beschäftigung des Komponisten mit dieser Gattung, nachdem er vorher fast nur Klaviermusik und Lieder geschrieben hatte. Auch dem A-Dur-Quartett ist die Auseinandersetzung mit Beethoven und Mendelssohn anzumerken. Wie soll man es also interpretieren? Das Barbican Quartet entschied sich für eine Mischung von Beethovenscher Polyphonie und Mendelssohnscher Melodienseligkeit – ein durchaus plausibler Ansatz. Sehr weich und lyrisch, fast behäbig im Tempo geriet der Eröffnungssatz. Dass dies durchaus mit Absicht geschah, zeigte sich im darauffolgenden Variationssatz, bei dem das Agitato beim Wort genommen wurde. Die Primaria Amarins Wierdsma führte klar, Kate Maloney an der zweiten Geige reagierte hellwach, der Bratscher Christoph Slenczka wirkte etwas in sich gekehrt, und die Cellistin Yoanna Prodanova setzte ihre Kontrapunkte mit Temperament. Ein empfindsames, bestens aufeinander abgestimmtes Zusammenspiel mit viel Wärme im Klang offenbarte der langsame Satz. Viel musikantischen Geist zeigte das Ensemble im Finale, wo der Kontrast zwischen dem rhythmisch vertrackten Hauptthema und dem tänzerischen Nebenthema lustvoll herausgestrichen wurde.
Was hat die hybride Gegenüberstellung der beiden Ensembles gebracht? Originell war sie zweifellos. Aber zur gegenseitigen Erhellung der Werke trug sie nichts bei. Zudem hätten Vokalzirkel wie Barbican problemlos einen ganzen Abend bestreiten können. Nach der Bach-Motette bedauerte man, nicht noch mehr Vokalmusik dieses Ensembles zu hören, und nach dem Schumann-Quartett fand man es schade, dass die vier ARD-Musikwettbewerb-Gewinner nicht noch eine weitere Kostprobe ihres Könnens servieren durften.
Die Pressereise von Thomas Schacher wurde vom Davos Festival bezahlt.