Der Graben birst vor lauter Schlagwerk aus allen Nähten. In die Logen darüber quetschen sich die mehrfach besetzten Holzbläser, wie als würde hier Mahlers Achte Symphonie aufgeführt werden. Doch auf der Bühne spielt sich deutlich Profaneres ab. Auf einer Drehschreibe kreist unerbittlich eine hügelige Graslandschaft, in der die verdrehte Logik von Unsuk Chins Oper Alice in Wonderland durchdekliniert wird.
Elisabeth Stöppler zeichnet für diese Inszenierung am MusikTheater an der Wien verantwortlich und setzt, vielleicht wider der Erwartung so mancher Kinder im Publikum, nicht auf die romantische Verklärung einer Fantasiewelt. Stattdessen verankert sie die altbekannte Geschichte mit weißem Kaninchen, verrücktem Hutmacher und Herzkönigin in einem etwas unscharfen, manisch-depressiven Hier und Jetzt.
Noch bevor der erste Takt erklingt, fällt die an Seilen gesicherte Alice in Zeitlupe durch ein klaffendes Loch in der Decke – so beginnt die zweieinhalbstündige Odyssee durch eine düstere Traumwelt. Die intelligente Bühne (Valentin Köhler) steht genau zwischen dem Abgrund des literarischen Nonsense, in den die Titelheldin abzustürzen droht, und dem rettenden Anker in die Realität. Mal senken sich von oben drehbare Leuchtreklameelemente herab, andermal fährt aus der Tiefe ein Spiegelkabinett und zum Schluss sogar die auf einem Richtblock sitzende Herzkönigin hervor. Das Loch, dieses vage Ding am Rande unserer Träume, bleibt durchweg das zentrale Motiv dieser Inszenierung – mit all seinen düsteren Schattierungen.

Die Grinsekatze wird zur Domina im Lederkleid und das Kaninchen tänzelt als zugekokster Andy-Warhol-Verschnitt durch das kniehohe Gras. Selbst die Raupe wird in einen roten Glitzerdaunenmantel verpackt und entpuppt sich in den letzten Minuten des Stückes als bloße Vorstufe der Herzkönigin, die ihrerseits eine gruselige Mischung aus eiserner Jungfrau und Königin Elizabeth I. ist. Solche klugen Details machen fast alle der Kostüme (Valentin Köhler) zum echten Hingucker. Etwa auch, wenn sich die Maus vom verrückten Hutmacher einen Kavaliershut klaut und so, wie als Katharsis, zum gestiefelten Kater wird. Auf durchaus charmante Weise wird so die Unberechenbarkeit von Unsuk Chins musikalischer Traumwelt durch eine Facette bereichert.
Und trotz vieler exzellenter einzelner Komponenten ziehen sich weite Teile der Inszenierung zäher als Kautschuk. Zum einen sicherlich, weil dem Zuschauer einiges an Vorwissen abverlangt wird. Wer Lewis Carrolls Alice’s Adventures in Wonderland noch nie gelesen hat, der wird große Teile der Handlung, noch dazu da Chin sie um zwei Traumszenen erweitert hat, nicht verorten können. Von Tierkostümen fehlen jede Spur und architektonische Parallelen zum Haus des Kaninchens oder dem Tränenteich sucht man auf der Bühne ebenfalls vergebens.
Das Resultat ist ein visuelles und klangliches Wirrwarr, das dem Publikum jegliche Anhaltspunkte entzieht. Das „Who am I“, das in fetten Lettern auf dem T-Shirt von Alice prangt, wird so, unfreiwillig, zur Metapher für die gesamte Aufführung.
Punktuell eingesetzt hätte das düstere, keiner greifbare Logik folgende Treiben auf der Bühne sicherlich die Gedankenwelt von Alice auf vortreffliche Weise illustrieren können. Einen ganzen Abend lang wird es streckenweise fast unerträglich. Etwa wenn im ersten Zwischenspiel die Raupe (Esther Schneider) auf der Bühne in einem wunderbaren Bassklarinettensolo in kryptisch steigenden Chiffren nach der Identität der Titelheldin fragt. Quälende zehn Minuten rennt Alice im Kreis, ohne auch nur einen einzigen Antwortansatz zu skizzieren. Mangels echter Pointen, bleibt nur die Leere des Loches zurück.
Trotzdem quittierte das Publikum diese Premiere mit artigem Applaus und sogar ohne einen einzigen Buhruf. Die eine Hälfte war sicherlich noch ganz benommen, die andere Hälfte hat sich in ihrer Wertung vielleicht eher auf das durchaus solide Ensemble konzentriert.
Álfheiður Erla Guðmundsdótti sang die Alice jedenfalls mit fabelhafter, mädchenhafter Grazie, während der Countertenor Andrew Watts dem Kaninchen glaubhafte Spitzentöne herauslockt. Ben McAteer kann als Hutmacher genauso überzeugen wie Mandy Friedrich als Herzkönigin mit wunderbar angriffslustigem Sopran.
Der Abend ist am spannendsten wenn das reich besetzte Schlagwerk das düstere Treiben auf der Bühne mit entschiedener Prägnanz untermalt. Unter der Leitung von Stephan Zilias beweist das ORF Radio-Symphonieorchester mit überbordender Klangvielfalt, warum dieses Stück 2007 von der Fachzeitschrift Opernwelt zur Uraufführung des Jahres gewählt wurde.
Unsuck Chins Stück abzucancelln, so grausam psychologisch wie der Ansatzpunkt sein mag, wäre also falsch. Der zeitgenössische Stilpluralismus, der in vielen Momenten insbesondere an Maurice Ravel erinnert, hat durchaus seinen Charme, auch wenn man sich durchaus auf die Repetitivität der anspruchsvollen Vokalpartien einlassen muss. Am Theater an der Wien wird daraus allerdings leider nur bedingt ein sinnstiftender Hut.

