Der Sommer eines typischen Opernfans spielt sich üblicherweise irgendwo zwischen Salzburg, Bayreuth und Verona ab; mein persönlicher Festspielsommer ist dieses Jahr allerdings um eine andere Facette – genau genommen sogar um einige „Eras“ – reicher. Und während es mir selbst so gar nicht seltsam vorkommt, Swiftie und Operafangirl in einer Person zu sein (das Geheimnis meines Musikgeschmacks ist nämlich denkbar simpel: Was mir gefällt, wird gehört!), stößt mein „Doppelleben“ da wie dort auf gewisse Verwunderung.

Auf der einen Seite wären da die Klassikfans, die sich fragen, warum man freiwillig einen Abend mit lauter Musik und kreischenden Sitznachbar*innen in einem brechend vollen Stadion verbringt und auf der anderen Seite wundern sich Swifties darüber, wie man einen Abend genießen kann, wenn man weder tanzen noch mitsingen darf. So verschieden beide Welten auf den ersten Blick auch scheinen mögen, eigentlich sind sie sich letztendlich in vielerlei Hinsicht ähnlicher, als man glaubt. Und das liegt nicht nur daran, dass Taylor Swifts Großmutter Marjorie Finlay (der übrigens der wunderschöne Song Marjorie auf dem Album Evermore gewidmet ist) ausgebildete Opernsängerin war und Swift von frühester Kindheit an musikalisch inspirierte, sondern auch an den überraschend vielen Gemeinsamkeiten, die Opernfans und Swifties verbinden.
Vermutlich das auffallendste Element ist die Begeisterung – um nicht zu sagen der Fanatismus – des Publikums. Sowohl Swifties als auch Opernfans nehmen oftmals weite Reisen auf sich, um bei einer Vorstellung dabei zu sein. Da werden Monate im Voraus Hotels und Flüge gebucht und der Urlaub wird rund um die Stunde Null geplant.Heiß begehrte Karten, die mit langer Vorlaufzeit ergattert werden müssen und am Schwarzmarkt zu einem Vielfachen des Orignalpreises gehandelt werden, gibt es sowohl für Taylor Swifts Eras Tour als auch für besonders begehrte Vorstellungen etwa bei den Salzburger Festspielen; und mit liebevoll selbst gebastelten „Suche Karte” Schildern trifft man Menschen vor der Bayerischen Staatsoper ebenso an wie vor dem Wembley-Stadion in London. Da wie dort hoffen verzweifelte Fans auf ein Ticket in letzter Minute, um doch noch mittendrin statt nur von außen dabei zu sein.
Gleichermaßen zeichnet sich das Stammpublikum in Opernhäusern und Stadien durch Textsicherheit und Interpretationsfreude aus; denn ebenso wie man mit einem Wagnerianer stundenlang die feinen Nuancen des Librettos von Tristan und Isolde erörtern kann, kann man sich mit einem Swiftie über Taylors Songs und deren Bedeutungshorizonte austauschen. Was dem breiten Radiopublikum bei Swifts Hits nämlich leider oft verborgen bleibt, sind die Wortgewandtheit, Poesie und Tiefgründigkeit ihrer Texte – vor allem in den ruhigeren Alben wie Folklore und Evermore, aber auch im aktuellen Album The Tortured Poets Departement, auf dem poetische Textpassagen wie „Sanctimoniously performing soliloquies I'll never see” oder
„Say it once again with feeling
How the death rattle breathing
Silenced as the soul was leaving
The deflation of our dreaming
Leaving me bereft and reeling”
ebenso zu finden sind wie religiöse Metaphern im Stil von
„What if I roll the stone away?
They're gonna crucify me anyway”.
Mit ihrem Talent für Storytelling eröffnet Taylor Swift, die übrigens bereits im Grundschulalter Gedichtwettbewerbe gewann, einen breiten Interpretationshorizont und mit der engen Verbindung aus Text, Musik und Inszenierung lebt sie in ihrem Werk gewissermaßen auch eine moderne Version von Wagners Idee des Gesamtkunstwerks, denn so stammen nicht nur Musik und Text aus ihrer Feder, sondern häufig zeichnet sie auch für die Regie ihrer bildgewaltigen Musikvideos verantwortlich.
Mindestens ebenso akribisch und ganzheitlich bereiten sich die Swifties auf ihre Auftritte im Publikum vor. Mit Outfits, die entweder einem von Taylors Bühnenkostümen nachempfunden sind, die eine Referenz zu einer Textzeile darstellen oder stilistisch besonders gut zu einer der Eras passen. Die Bandbreite reicht dementsprechend von Cowboyboots und Fransenkleidern (eine Reminiszenz an die ersten beiden Alben Debut und Fearless, die stilistisch noch ganz dem Countrypop verschrieben waren) über farbenfrohe Miniröcke aus der Zeit des Albums 1989 (mit dem der Wandel vom Country zum Pop endgültig vollzogen wurde) bis hin zu fließenden Kleidern in gedeckten Farben passend zu den Indie-inspirierten Alben Folklore und Evermore.
Ein absolutes Muss sind bei (fast) jedem Styling eine gute Portion Glitzer und natürlich die typischen Freundschaftsarmbänder mit Songtiteln oder Zitaten, die untereinander getauscht werden. Ganz fremd ist diese Herangehensweise auch in der Welt der Oper nicht, denn insbesondere bei prestigeträchtigen Premieren herrscht frei nach Motto „sehen und gesehen werden” oftmals große Kreativität in Sachen Styling. Auch ein speziell auf die jeweilige Oper abgestimmtes Make-Up oder Outfit ist dabei keine Seltenheit.
Der Personenkult, der in unserer Zeit typischerweise mit Popstars wie Taylor Swift assoziiert wird, ist keinesfalls ein neues Phänomen. Im Barock war er den jeweiligen Stars der Opernszene vorbehalten und Franz Liszt hielt sich gar einen Hund, der die gleiche Haarfarbe wie er selbst hatte, um der Nachfrage seiner Fans nach seinen Locken nachkommen zu können. Und wenn ich heutzutage beurteilen müsste, ob nun Fans von Jonas Kaufmann oder jene von Taylor Swift fanatischer auftreten, würde wohl auch fernab von der Zeit des barocken Sängerkults der bayerische Tenor die Wertung gewinnen. Denn auch wenn in der Opernwelt mittlerweile gerne die kollektive Ensembleleistung betont wird, sind es natürlich immer noch die großen Namen, die für volle Häuser und Kreischalarm sorgen.
Was die beiden Fangruppierungen verbindet, sind die Gepflogenheiten, die für Außenstehende wohl ziemlich seltsam anmuten mögen: Nach dem ersten Akt des Parsifal nicht zu applaudieren ist für geübte Opernbesucher ebenso selbstverständlich wie der Ruf „One, two, three let’s go bitch”, sobald Taylor Swift beim Song Delicate das erste Mal die Zeile „But you can make me a drink” gesungen hat. Und während man in der Oper mit Bravo-Rufen seiner Begeisterung Ausdruck verleiht, jubelt man auf der Eras Tour nach Champagne Problems so laut und so lange man es körperlich schafft, denn das Publikum jeder Stadt hat den Ehrgeiz, den längsten Applaus zu schaffen.
Bei all den Gemeinsamkeiten könnten Opernfans von Swifties aber auch noch Einiges lernen – nämlich hinsichtlich Offenheit und Toleranz. Während das Publikum bei Taylor Swifts Konzerten wunderbar unkompliziert ist und ganz ohne Vorurteile alle als Teil der Community anerkennt, die auch nur ein Glitzersteinchen am Körper tragen, trifft man trotz zunehmender Diversität und Entspanntheit in Opernhäusern manchmal doch noch auf mansplainende ältere Herren und standesdünkelnde Damen, die die Nase rümpfen, sobald jemand in Jeans die heiligen Hallen betritt oder es wagt, sich ein bisschen lauter als im Flüsterton zu unterhalten.
Ein bisschen mehr Shake-it-off-Mentalität würde so manchem dieser Anzugträger nicht schaden, denn im Grunde geht es doch immer darum, sich emotional berühren und mitreißen zu lassen. Das gelingt völlig unabhängig davon, ob man die Arena di Verona oder einen Stopp der Eras Tour besucht, denn die Stoffe und Themen, die sowohl in den Klassikern der Opernliteratur als auch in Taylor Swifts Songs verhandelt werden, sind sich erstaunlich ähnlich.
Die Liebe mit ihren positiven und negativen Aspekten, Enttäuschung, Freundschaft, Tod und Hoffnung – all diese existenziellen Inhalte finden sich sowohl in Songs von Taylor Swift als auch in Opernarien, die vor hunderten von Jahren komponiert wurden. Müssten Opernfiguren ihren Gefühlen mit Swifts Songtexten Ausdruck verleihen, würde wohl Don Giovanni ganz keck „I’ve got a long list of ex lovers, they’ll tell you I’m insane. But I’ve got a blank space baby, and I’ll write your name” singen, die Principessa di Bouillon könnte Adriana Lecouvreur mit „she should keep in mind there’s nothing I do better than revenge” drohen und Des Grieux aus Puccinis Manon Lescaut würde zu „I'm wonderstruck, blushing all the way home. I'll spend forever wondering if you knew I was enchanted to meet you!” schmachten.
Violetta würde währenddessen bei „I didn't have it in myself to go with grace. And you're the hero flying around, saving face. And if I'm dead to you, why are you at the wake? Cursing my name, wishing I stayed” ihre unfreiwillig gescheiterte Beziehung zu Alfredo beweinen und Gilda hätte wohl diebisches Vergnügen daran, mit den Zeilen „But Daddy I love him! I'm having his baby. No, I'm not, but you should see your faces” ihren Vater Rigoletto veritabel zu schockieren.
Von den inhaltlichen Parallelen zwischen Opernarien und Taylor-Swift-Songs war – zumindest bei der Arbeit an diesem Artikel – in weiterer Folge dann der gedankliche Weg hin zu der Frage, wie Operncharaktere eigentlich als Swifties agieren würden. Und so kam es, dass ich mir mitten während des Konzerts im Mailänder San Siro-Stadion vorstellte, wie Donna Elvira bei All too well und The smallest man who ever lived gedanklich Don Giovanni verfluchen würde oder wie Carmen „We are never ever getting back together” feiern würde.
Und nachdem ich in der Sommerhitze Italiens auch noch bildlich vor Augen hatte, wie enthusiastisch einige Opernheldinnen in ihren besten Glitzeroutfits mit Taylor gemeinsam die Textzeile „Fuck the patriarchy” in den Abend brüllen würden, beschäftigte mich schließlich die Vorstellung, wie wunderbar man eigentlich beide Welten verbinden könnte. Denn Taylor Swifts Eras Tour würde angesichts der Spieldauer von dreieinhalb Stunden eine Pause durchaus gut tun – Stichwort Toilettenbesuch ohne auch nur einen Ton verpassen zu müssen! – und was spräche eigentlich dagegen, bei sommerlichen Opernfestspielen mit Gleichgesinnten bunte Freundschaftsarmbänder mit den Lieblingstextzeilen zu tauschen!?
Während des Verfassens dieses Artikels standen in meinem Kalender eigentlich noch zwei Termine der Eras Tour im Wiener Ernst Happel Stadion – gewissermaßen sollten diese Abende das Highlight meines Taylor-Swift-Sommers vor dem folgenden Operntrip zu den Salzburger Festspielen sein. Nun ist man als Opernfan ja an Absagen bzw. Umbesetzungen gewöhnt, bei jeder Buchung schwingt im Hinterkopf das Risiko mit, letztendlich Flug, Hotel und Ticket bezahlt zu haben, aber nicht die gewünschte Sängerin erleben zu können. Auf meine Tränen und Schockstarre nach der Absage von Taylor Swifts Konzerten aufgrund eines mutmaßlich geplanten Terroranschlages war ich dennoch nicht vorbereitet – diese Absage fühlte sich weitaus brutaler an als jede Umbesetzungsmail der Wiener Staatsoper. Im Opernbetrieb hört man nämlich wenigstens auch bei der Absage eines Sängers noch das Stück und entdeckt im besten Fall sogar eine interessante neue Stimme, die einspringt; bei einem abgesagten Popkonzert gibt es normalerweise kein solches Trostpflaster.
Da Wien aber anders ist, entwickelte sich rasch eine wunderbare Dynamik in der Stadt: überall wurden enttäuschte Swifties aufgemuntert – so gab es kostenfreie Burger, Pölster und Schmuck, Museen konnten gratis besucht werden und eine evangelische Kirche öffnete ihre Türen zum gemeinsamen Musikhören. Am Stephansplatz wurde spontan gesungen, in der Corneliusgasse (die aufgrund der Namensähnlichkeit mit Swifts Song Cornelia Street zur regelrechten Pilgerstädte wurde) versorgten zwei Familien einen ganzen Samstag lang die versammelten Swifties mit Musik, Getränken und Schokolade. Sogar der ORF hatte eine Überraschung parat und zeigte gemeinsam mit Disney+ die völlig unerwartete Free-TV-Premiere des Konzertfilms – zu dem mich dann übrigens auch Nachrichten aus der Opernbubble erreichten von Menschen, die vorher keine Berührungspunkte zu Taylor Swift hatten, aber von ihrer Musik und Show durchaus angetan waren!