Am 9. Juni wird er von der Ratsversammlung der Stadt Leipzig zum Thomaskantor gewählt; am Tag darauf leitet er das Eröffnungskonzert des Bachfestes. Was üblicherweise nicht zu bewerkstelligen wäre, funktioniert hier, weil Gotthold Schwarz, der neue Thomaskantor und 17. Nachfolger Johann Sebastian Bachs, zugleich der alte, nämlich seit dem Rücktritt Georg Christoph Billers im Januar 2015 amtierende Kantor ist. Ein aufwändiges Bewerbungsverfahren, zu dem vier Kandidaten angereist waren, die jeweils eine Woche mit dem Thomanerchor gearbeitet haben, war im Mai ohne Ergebnis beendet worden. Stattdessen schlug die Findungskommission dem Stadtrat vor, den Interimskantor zu wählen. Als erste offizielle Amtshandlung durfte Schwarz nun vor internationalem Publikum das Bachfest in der Thomaskirche eröffnen, nachdem Sir John Eliot Gardiner, Präsident des Bach-Archivs Leipzig, in seiner Begrüßungsansprache die Verdienste des Sängers, Chorleiters und Dirigenten nochmals hervor gehoben hatte.
Premierenangst brauchte Schwarz, der den Thomanern überdies als Stimmbildner seit Jahrzehnten verbunden ist, an diesem ihm so wohl vertrauten Ort also nicht zu haben. Und tatsächlich wirkte er ausgesprochen entspannt, als er in seiner üblichen völlig unprätentiösen Art, ganz im Dienste der Sache, vor Chor und Gewandhausorchester agierte. Bachs Kantate BWV20, O Ewigkeit, du Donnerwort eröffnete mit einer zart schwebenden, anmutigen Zauber entfaltenden Orchestereinleitung. Kraftvoll, aber mit dennoch weichem Klang folgte der Choreinsatz mit präziser Diktion, vom Wort her ausgedeutet, ohne Manierismen. Der eingeflochtene Choral, von Trompetenglanz unterstützt, leuchtete wie ein goldenes Band aus dem reichen Tonsatz hervor.
Das Tenor-Rezitativ gestaltete Martin Petzold, Ex-Thomaner und seit über 50 Jahren in der Thomaskirche im Einsatz, mit seiner hellen, immer noch jung klingenden Stimme und seiner an Peter Schreier geschulten Wortausdeutung. Die langen Bögen der folgenden Arie waren spannungsvoll musiziert; Petzold beherrscht die Kunst, zur Ausdruckssteigerung fast gesprochene Passagen bruchlos in den Gesang einzubetten. Die drei Solisten neben ihm zählten allesamt zur nächsten Generation. Bass Tobias Berndt, der das Handwerk als Kruzianer im benachbarten Dresden gelernt hat, bezauberte mit vollem, warmen Klang seiner leichten, beweglichen Stimme, die in letzter Zeit in der Tiefe an Ausdruck hinzu gewonnen hat. Betörende Oboen geben die Stimmung der Bass-Arie vor, in die sich Berndt wunderbar einfügte. Auch das wirklich virtuose Fagott sei erwähnt.
Schmerzlich verhaltener Streicherklang bestimmt dagegen die Alt-Arie, vor dessen dichter Atmosphäre sich die schön timbrierte Stimme Elvira Bills ausdrucksvoll entfalten konnte. Den ersten Teil beschließt ein dichter Choral, bei dem Schwarz die Zeilenübergänge im Gegensatz zu den früher immer wieder überraschenden Biller'schen Fermaten völlig organisch gestaltete. Eine strahlende Trompete und jubelnde Streicher unterstützten darauf die wache, engagierte Gestaltung Berndts in der Bass-Arie. Und Elvira Bill, ein echter Alt mit herrlich dunklem Timbre, entfaltete wunderschöne Bronze-Klänge in ihrem Rezitativ. Das Duett Alt-Tenor folgte sehr bewegt, von innen heraus erfüllt, und der Choral „O Ewigkeit, du Donnerwort“ zeigte schließlich den Thomanerchor, von Schwarz’ ausdrucksvoller Mimik angefeuert, nochmals in Top-Verfassung.
Max Reger verstarb vor genau 100 Jahren in Leipzig, daher wird seiner bei diesem Bachfest gedacht, und da er hier als Hochschullehrer und Universitätsmusikdirektor wirkte, ist es nahe liegend, den Universitätschor zur Verstärkung der Thomaner heran zu ziehen, um sein Requiem-Fragment aufzuführen. Mit tiefem Grollen im Orchester, bedrohlich, Unheil dräuend, hebt das Werk an, das Reger im Schrecken des Kriegsbeginns 1914 begann. Daraus schieben sich Streichersequenzen, dann der in der Tiefe verharrende Choreinsatz hervor, worauf die Solisten einzelne Klang-Glanzlichter setzen. Die düstere Grundstimmung indes bleibt und verdichtet sich in der Steigerung.
In extremem Ausdrucksgegensatz, zart, innig, friedlich und versöhnlich gestaltet Reger darauf das „ewige Licht“, mit gewaltiger Kraft des Tuttis das „Loblied in Sion“, demütig-bittend „Erhöre mein Gebet“. Die Wiederholung des „Requiem aeternam“ hat nun einen anderen Charakter und zeigt kraftvolle Zuversicht, die in einer gewaltigen Schluss-Apotheose endet, die deutlich macht, welches Klangpotenzial hier versammelt ist. Wer Gotthold Schwarz bisher als feinsinnigen Alte-Musik-Spezialisten schätzte, lernte ihn nun als eleganten Bändiger spätromantischer Klangextase kennen. Gewaltig auftrumpfend kam das „Dies irae“, dicht gesammelt, mit vorbildlicher Sprachbehandlung das „Mors stupebit“, warm und leuchtend das „Recordare“, innig-lieblich das „Qui Mariam absolvisti“.
Mit Ruhe und Bedacht schloss Schwarz das Reger'sche Fragment, um nach einer kurzen Sammlungspause den Bach-Choral Es ist genug, Herr, wenn es dir gefällt anzuschließen, der in seiner gesammelten Schlichtheit unendlich ergreift. Diese Worte könnten zugleich auch als Motto für das viele Jahrzehnte währende sängerische und dirigentische Wirken Gotthold Schwarz’ stehen – ganz im Sinne von Johann Sebastian Bachs „Soli Deo Gloria“. Leipzig hat einen würdigen Nachfolger für diesen gefunden; das ist spätestens bei diesem Konzert deutlich geworden.