Kirill Petrenko ist nicht unbedingt als Bruckner-Spezialist bekannt. Jedoch brachte er dessen Fünfte Symphonie im Juni mit dem Gustav Mahler Jugendorchester zu Gehör, und wählte nun eben diese zur Saisoneröffnung der Berliner Philharmoniker. Mit seiner Aufführung von diesem kontrapunktischen Meisterstück vermag er vor allem dank seines Sinns für die Architektur des Werkes zu überzeugen.

Kirill Petrenko und die Berliner Phiharmoniker © Stephan Rabold
Kirill Petrenko und die Berliner Phiharmoniker
© Stephan Rabold

„Tradition ist Schlamperei“ lautet ein Bonmot Gustav Mahlers, mit dem dieser Unachtsamkeiten kritisierte, die sich in die Aufführungspraxis schleichen und dann nur noch schwer korrigierbar sind. Unausgesprochen geht Petrenko mit jedem Dirigat gegen schlechte Gewohnheiten dieser Art an. Darum kamen auch in diesem Konzert Dinge zum Klingen, die für gewöhnlich dem Partiturstudium vorbehalten sind wie etwa Bruckners Anweisung, die ersten Töne der auffahrenden Fanfare in der Introduktion „marcato“ und „staccato“ zu spielen.

Auch die Basstöne des dritten Themas, die oft im Tutti untergehen, bildeten hier sehr pointiert die Gegenstimme im heterophonen Tonsatz. Wesentlich wichtiger für den großen Erfolg dieser Aufführung war es aber, dass es Petrenko gelang, eine Verbindung zwischen den Themen herzustellen, um die Darbietung dieses Riesenwerkes nicht in Teilstücke zerfallen zu lassen. Petrenko entlockte den Berliner Philharmonikern Töne, die es vermochten solche Überleitungen zwischen ein Nachsinnen über das gerade Gehörte und ein Vorausblicken auf das Kommende zu stellen. Vor allem verstand es Petrenko, die beiden mittleren Sätze nicht als bloße Überbrückung zwischen Kopfsatz und Finalsatz abzuwerten.

Der langsame Satz wurde als „Leiden fallender Septimen“ tönend inszeniert. Petrenko kehrte sie schon im Pizzicato-Vorspiel der Streicher hervor, worin sie noch versteckt sind, statt in ihm nur absteigender Basstöne hörbar zu machen, die vermeintlich im Vordergrund stehen. Wie genau Petrenko die Partitur studiert hat, wurde auch an der heiklen Stelle deutlich, in der Bruckner den Satzhöhepunkt auf dem Quartsextakkord von C-Dur zwar erreicht hat, die Kadenz aber dann doch jäh abbrach. In was für Verlegenheiten bringt diese Stelle auch erfahrene Dirigenten! Petrenko machte sie als sinnfälliges Hindernis auf dem langen Weg zum Finale hörbar. Die unendliche Melodie des zweiten Themas erblühte im Orchester so klangschön, dass ich sicher nicht als Einziger im Saal hoffte, dass sie niemals verklänge.

Hochvirtuos wurde das Scherzo genommen, das ich derart zügig gespielt wohl noch nicht gehört habe. Während Bruckner in den Ecksätzen Themen, Motive und ihre Umkehrungen in schier unermüdlicher Kombinationslust aufeinander prallen ließ – was bewundernswert transparent zu hören war –, so ließ er im Scherzo mehrere rhythmische Modelle aufeinandertreffen, was aus dem Hauptteil des Satzes einen wilden Ritt machte, der derart präzise gespielt wohl Seltenheitswert beanspruchen darf.

Höhepunkt der Aufführung war zu Recht das Finale. Petrenko und das bis auf wenige Töne im Horn zu Beginn des Werkes glänzend disponierte Orchester verstanden es, in der Doppelfuge der Durchführung die beiden Themen noch als Widerparte gegeneinander treten zu lassen, so dass eine fulminante Wirkung entstand, als sie beide in der Reprise zu einer Gestalt zusammengewachsen waren. In der Coda trat das Thema aus dem Kopfsatz hinzu. Trotz erheblicher Lautstärke waren die drei Charaktere als Kontrapunkt der Gestalten zu vernehmen, bis sie schließlich durch Vergrößerung in großen Klang aufgelöst wurden.

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