Mittlerweile nicht mehr wegzudenken aus dem Dortmunder Klangvokal-Konzertkalender ist Lionel Meuniers Ensemble Vox Luminis, das bei seinem neuerlichen Auftritt ein Werk vorstellte, welches in anderen Zeitdimensionen genau das Gegenteil war: nämlich über 300 Jahre völlig verschwunden. Die Rede ist von Emilio de' Cavalieris Rappresentatione di Anima, et di Corpo, die der Komponist – gemessen am Drucklegungsdatum – selbst für den Prototypen des Musikdramas, dessen Kollegenschar anerkennend für einen bisher unbekannten Meilenstein hielt.

Einer gesungenen Dialogfolge vor Monteverdis L'Orfeo und Caccinis Vorläufer, die heute meistens im bewussten Aussparen auch davor verfasster Oper von Cavalieris mit Groll bedachtem Florentiner Widersacher Jacopo Peri, dem mit Dafne (1597) eigentlichen Opernerstlingsschreiber, für die allerfrühesten ihrer Art erachtet werden. Zugegeben, Cavalieris Stück ist – ohne den teils müßigen musikwissenschaftlichen Streit darüber vom Zaun zu brechen, da ein Produkt des kunstrevolutionären Zeitgeists – eine sakrale Oper, manches näher am Oratorium in viel später übernommenem Genreverständnis, unter anderem Antonio Caldaras. Und in einem örtlichen Oratorium in Rom im Rahmen des von Papst Clemens VIII. ausgerufenen Heiligen Jahres hatte im Februar 1600 auch die Uraufführung stattgefunden.
Mit der Frage der Zeit an sich beschäftigt sich dabei die in drei Akten verfasste Arbeit de' Cavalieris; einer existentiellen irdischen Lebensentscheidung für alle Ewigkeit. Denn nach aufträglicher Richtschnur seiner Heiligkeit beschreibt das Werk den mit der Himmelfahrt belohnten Entscheid zu einem frommen, entsagungsbereiten Leben der Gläubigen, in Wahrheit machtsichernden Untertanen. Dafür bedient sich Librettist Agostino Manni wegweisend allegorischer Figuren, die in Form von Gleichnissen ein Schauspiel bestreiten: die Auseinandersetzung zwischen beziehungsweise Gegenüberstellung von Himmel und Welt, glücklicher und verdammter Seele, schlicht Gut und Böse.
Die Zeit verging im temporären Rezeptionsgeschehen durch Vox Luminis' grandiose Aufbereitung wie im Fluge, um gleichzeitig getreu der Intention von Erfüllung und Gebanntsein sowie der Ehrerweisung an Cavalieris kompositorische Schöpferkraft lange nachzuhallen. So erschienen die – freilich erweiterten – Sinfonie zu Anfang und Ende der Akte eine schöner als die andere, lag dem intonationstechnisch unfassbar harmonischen Instrumentalensemble der inspirierende Klang von Erbauung, feierlicher Spielfreude sowie kontemplativer Raum-Zeit- und Schwerelosigkeit im musikalischen Blut. Jenes Ensemble bestand – unter Verzicht der im Partiturdruck erwähnten spanischen Schellentrommel – aus Geige und Bratsche, Gambe, Lirone und Violone, Orgel, Cembalo und Barockharfe, der illustren Riege an Ceterone (später auch Sopranlaute), Chitarrone und Theorbe sowie dem prächtigen Posaunenconsort, wobei der Cornettodiskant zum Auftritt des Piacere-Trios kurzzeitig zur Renaissancegitarre griff.
Verbietet es sich eigentlich bei der hervorragenden Gesamtleistung, besonders neben dem vollmundig sauberen Klang auch exzellent im steten Metrenwechsel, einzelne Instrumentalisten davon herauszustellen, sei mir dies dennoch gestattet, um zudem auf stück- und aufführungsstrukturelle Brillierungen einzugehen. Sarah Ridy an der Harfe, Lies Wyers an der Lirone und Anthony Romaniuk, Vox Luminis' fast schon kultige Cembalo-/Orgel-Lebensader, bildeten – oftmals mit Bor Zuljans Ceterone – ein stimmungsvolles Continuofundament, das die dafür speziellen Rezitative und Ritornelli zu den affektgebenden Genussbolzen machte, die sie in organischer, spielrhetorischer Weise waren. Josué Melendez beherrschte das Cornetto – nicht nur bei Diminutionen – in solch einer exakten und umfassend sicheren Art, dass seine Zinkvirtuosität wie aus einer eigenen Liga stammte, dem Himmel. Fungierte als sein Pendant das Basssackbut Joost Swinkels', das in typologischer Instrumentenbesetzung mit dem Regalregister der Orgel das Ungemach der Hölle herausröhrte, bestätigte ebenfalls Simen Van Mechelen an der Altposaune in der Solopassage der Akt-III-Ciaccona die Topform des Ensembles.
Natürlich dagegen zwingend einzeln zu erwähnen sind die vokalsolistischen Figuren der Rappresentatione, an deren Beginn Raffaele Giordani als Tempo den von Cavalieri geforderten klaren, eindrücklichen Ton vorgab, den er als verlangender, in Versuchung geführter, zweifelnder und schließlich stets bekehrter Corpo in Moll beibehielt sowie sich stilistisch alle anderen – auch mittels Mimik – zueigen machten. So im Monolog und Verlauf der die Vergänglichkeit und den Himmel bestätigende Intelletto, der in der Chorreihenmitte thronende Angelo Custode und die mit Corpo in dichtem Dialog befindliche Anima in Dur. Ihnen stand die oberste Priorität habende Deutlichkeit André Pérez Muíños Counters, diejenige Victoria Cassanos herziger, ins Gewissen geredeter Strenge und jene der dunkelgoldigen, traubigen, mahnenden Anima-Anmut Sophia Faltas' gut an.
Massimo Lombardi trug die Allegorien von Consiglio und Mondo in identifikatorischer Manier mit dem großen Brustton der Überzeugung seines hellen ansatzabgeweichten Tenors mit ansonsten leicht härtlich-künstlicherem Grundeinschlag vor. Piacere und dessen Compagni lieferten mit Counter Jan Kullmann, Tenor Roberto Rilievi und Bass Guglielmo Buonsanti eine köstliche Verlockungsshow aus einem Tanz der drei Animateure, die mit Estelle Leforts Vita Mondana eine strahlend-aufreizende Konkretisierung erfuhr. Lóránt Najbauer als Anima damnata und Zsuzsi Tóth, anfälliger, im Engelsecho aber präzise, als Anima beata erledigten ihre Einsätze grundsolide.
Beiden Seelen standen räumlich die Chorgruppen zur Seite, den glücklichen die aufrechten Soprane, den verdammten die gehockt-erdrückten, beschwerten Männerstimmen. Nicht nur unterstrichen die robusten, herrlich preisenden Chöre im liedgesegneten, ballabilen Tutti das durch Taktwechsel (4/4 Erde, 3/4 Himmel), Artikulation und Phrasierung kontrastierend Deskriptive und die Moral, sondern final das Fest und das theatralische Gesamterlebnis, zu dem Vox Luminis diese Zeit auf Erden werden ließ.