Er steht rechts, sie links des Dirigenten, beide in beträchtlichem Abstand voneinander. Ihn, den Sprecher, versteht man meistens nicht. Das erste Wort lautet „Schatten“, danach flüstert und raunt er Geräusche, Laute und Worthülsen. Das Instrumentalensemble hinter dem Dirigenten scheint in großer Aufregung zu sein, begleitet mit einer energiegeladenen, quirligen, chaotisch anmutenden Musik. Der Chor, ganz zuhinterst aufgestellt, agiert statischer und steuert repetitive Akkorde bei, die Sprache könnte lateinisch sein. Und sie, die Sängerin? Sie bleibt fast sieben Minuten lang stumm, dann stößt sie drei Schreie von sich, die durch Mark und Bein gehen.

Wir erleben hier die erste der insgesamt zehn Szenen von Beat Furrers Musiktheater Begehren. Der in der Schweiz geborene Wahlösterreicher ist diesen Sommer, anlässlich seines 70. Geburtstages, am Lucerne Festival Composer-in-Residence. Neben der Uraufführung seines neuen Orchesterstücks Lichtung bildet die Schweizer Erstaufführung von Begehren den wichtigsten kompositorischen Beitrag Furrers in dieser Rolle. Die konzertante Uraufführung des Theaterstücks fand allerdings bereits 2001 im Rahmen des Steirischen Herbsts in Graz statt. Die szenische Uraufführung folgte im Januar 2003 ebenfalls in Graz, als Koproduktion von Steirischem Herbst und Ruhrtriennale.
Begehren thematisiert den antiken Mythos von Orpheus und Eurydike. Neben den lateinischen Texten von Ovid und Vergil, welche die ursprüngliche Liebesgeschichte erzählen, verwendet das Libretto auch moderne Texte von Cesare Pavese, Günter Eich und Hermann Broch. Damit handelt das Stück nicht nur von dem berühmten Liebespaar, sondern rückt die beiden Figuren auf eine allgemeine Ebene. ER begehrt SIE, kann aber nicht zu ihr finden. Dieses Scheitern wird sowohl textlich wie musikalisch verdeutlicht: Der Mann zitiert ausschließlich aus Pavese und Broch, die Frau aus Eich und Vergil; es fehlt also an einer gemeinsamen Sprache. Zudem verkörpert sie eine Sängerrolle, er eine Sprechrolle. Es gibt immerhin gewisse Konvergenzen: „Ich kann zu dir sprechen, als wärst du hier“, sagt sie in der Schlussszene. Physisch ist er noch auf der Bühne, aber ob er die Worte auch hört?
Die in zeitgenössischer Musik erprobte Sarah Aristidou gibt Eurydike/Sie als Powerfrau mit eindringlicher Stimme und hoher Körperpräsenz. Christoph Brunner realisiert Orpheus/Ihn als weichen Jüngling mit verblüffenden sprachlichen Variationsmöglichkeiten. Womit auch auf der Ebene der Charaktere die Unmöglichkeit des Zusammenkommens demonstriert wird. Schade, dass es weder Übertitel noch den Abdruck des Librettos im Programmheft gibt. So kann die Mehrzahl der gesungenen und gesprochenen Texte wegen akustischer Unverständlichkeit keine Wirkung entfalten. Beim Chor, dem in Graz beheimateten Vokalensemble Cantando Admont, fällt dieser Mangel weniger ins Gewicht, da die Wirkung des Gesangs weniger auf dem Text als vielmehr auf dem suggestiven Sog dieser stets gleichen oder ähnlichen Klänge beruht.
Mit dem von ihm gegründeten Klangforum Wien steht Furrer, der die Aufführung im Luzerner Theater selber leitet, ein Klangkörper zur Verfügung, das zu den besten im Bereich der zeitgenössischen Musik zählt. Das mit Streichquintett, Holz- und Blechinstrumenten, Klavier und Schlagzeug bestückte Ensemble realisiert die vom Komponisten intendierte kreisende Form sehr sinnfällig. Parallel zur inhaltlichen Dramaturgie, die ständig auf den entscheidenden Moment von Orpheus‘ Zurückblicken nach Eurydike fokussiert, wohnt auch der Orchestersprache weniger ein zielgerichtetes Streben als vielmehr ein „Treten an Ort“ inne. Trotz zeitweiser heftigster Bewegungen kommt die Musik nicht vom Fleck. Als Dirigent stellt Furrer diese Widersprüchlichkeit pointiert heraus.
Leider verzichtet man in Luzern, wie schon zuvor in Salzburg, auf eine szenische Aufführung des Musiktheaterstücks. Eine zusätzliche visuelle Dimension wäre aber für Begehren auf jeden Fall eine Bereicherung. Denn Sehen und Hören sind ja in dem Stück die zentralen Wahrnehmungsarten. Orpheus, der die Chance zur Rückführung Eurydikes aus der Unterwelt durch seinen Gesang erreicht hat, verwirkt sie ausgerechnet dadurch, dass er die Geliebte sehen will. Das gäbe interessante Ansätze für eine Inszenierung.