Volksoper-Direktorin Lotte de Beer hat ihre 2021 für die Festivalbühne von Aix-en-Provence ersonnene Figaro-Regie an den Wiener Gürtel geholt, und der Trailer auf der Homepage, in dem sie ankündigte, die Geschichte aus verschiedenen Perspektiven zu erzählen, sorgte für Vorfreude. Es ließ sich auch alles rasant und witzig an, bis der Witz in billigsten Klamauk umschlug und die Pause die Stopptaste drückte.
Nach dieser Vollbremsung passierte dann das, was eben passiert, wenn man zu schnell unterwegs ist und die Kurve nicht mehr kratzt. Dieser Figaro-Flitzer schoss geradeaus weiter, streifte im vierten Akt noch einen Baum aus Stoff- und Wollresten und landete mit höflichem Applaus. Der Abend ging also glimpflich aus, aber am Ziel, jeden Akt vom Standpunkt einer anderen Figur zu erzählen, war man mangels Ernsthaftigkeit nicht angekommen.
Der erste Akt zeigt die Sichtweise des Grafen, womit man im Setting einer Achtzigerjahre Sitcom wiederfindet, in der Marcellina ein Golden Girl sein könnte, Figaro Vokuhila trägt und der Graf Fönwelle. Zwischen dem gräflichen Schlafzimmer und einem amerikanischen Wohnzimmer befindet sich in der Bühnenmitte Susannas Hauswirtschaftsraum, in dem zwar nicht die beiden orangefarbene Industriewaschmaschinen den Schleudergang einlegen, das Bühnenpersonal aber sehr wohl. #MeToo ist noch gefühlt Lichtjahre entfernt und der Graf belästigt ungestraft die weiblichen Haushaltsmitglieder, ist aber in Slapstick-Manier wenig erfolgreich. Dass er beim Blinde-Kuh-Spiel à la 9 1/2 Wochen dem Charme eines Bügelbretts aufsitzt, hemmt seinen erotischen Ehrgeiz nicht.
Diese Retro-Show ist tatsächlich lustig anzuschauen, zumal die Ausstattung mit viel Liebe zum Detail gefällt. Es gibt sogar einen Stil-Kasten, auf dem sich Kartons mit dem damals aufkommenden Wohlstandsklumpert stapeln. In diesem Setting macht die vom Grafen vernachlässigte Gräfin lustlos Aerobic und unternimmt im zweiten Akt drei Suizidversuche, die von Susanna vereitelt werden. Angesichts der Tatsache, dass in Österreich laut Statistik dreimal mehr Menschen durch Suizid als durch Verkehrsunfälle sterben, bleibt einem das Lachen aber bei allem Klamauk im Hals stecken.
Bessere Stimmung bekommt die Gräfin in der Szene mit Cherubino, bevor der Stress mit dem Versteckspiel losgeht, denn bis er und sein armlanges bestes Stück endlich im erwähnten Schrank landen, steht letzteres mehrfach im Weg. Das ist vielleicht beim ersten Mal lustig, aber mit jeder Wiederholung weniger, und muss schließlich durch neue Reize übertroffen werden: Vor der Pause steigt nämlich Figaros Junggesellen-Abschiedsparty, und unter den verkleideten Gästen sieht man Borat, der im Schrank der Gräfin nach dem passenden Darüber für seinen Bikini sucht, einen erigierten Penis mit flauschigen Hoden-Schuhen, Sexpuppen-Köpfe… Ist das aber wirklich Susannas Sicht der Geschichte, wie der zweite Akt überschrieben ist?
Zur Halbzeit ist jedenfalls klar, dass de Beer ihr Motto, Figaro als Geschichte von Sex und Macht zu erzählen, auf halbem Weg aufgegeben hat. Klar, Figaro ist eine Komödie, aber sie zieht das Komische aus dem Umstand, dass man einander an der Nase herumführt, wo Wollen auf Nicht-Wollen oder Nicht-Dürfen trifft, und der Mächtige zumindest verunsichert wird. Hier hat aber der Sex die Macht ergriffen, der Spaß ist Vizekanzler, und die Macht auf verlorenem Posten.
Nach der Achtzigerjahre Party sind im dritten Akt die fluffigen Frisuren Geschichte, und es herrscht eine Atmosphäre wie in den frühen Zehnerjahren des deutschen Regietheaters, die die Gräfin in einem beleuchteten Himmelbett-Kubus zu ihrer eigenen Gefangenen macht. Im vierten Akt betätigen sich dann Marcellina und Barbarina als Resistance Knitters (wogegen, ist nicht mehr klar, wer ist schon gegen Sex und Spaß?), und der Abend klingt mit einer glitzernden und bunten Handarbeitsstunde aus.
Bunt ist auch das, was Omer Meir Wellber am Hammerklavier zu den Rezitativen eingefallen ist, denn da gibt es etwa knappe Anspielungen auf die Ballade pour Adeline und die Marseillaise, und die Suizidversuche der Gräfin sind in bester Stummfilmmanier untermalt. Das passt zu dieser Inszenierung und diese Originalität machte auch wett, dass das eine oder andere vorgegebene Arientempo am Premierenabend gleich wieder angepasst werden musste.
Als Figaro überzeugte Michael Arivony mit seinem angenehmen, flexiblen Bariton und Spielfreude – ein vielversprechender junger Sänger, mit dem das Haus einen ebenso guten Griff gemacht hat wie mit Lauren Urquhart, die eine entzückende Susanna gab und nicht nur im zweiten Akt klar machte, dass sie das Faktotum des Stücks ist. Sängerisch war sie toll unterwegs und auch das Talent von Annelie Sophie Müller, die mit jugendlich-schwärmerischem Mezzo gefiel, darf man in dem frivolen Cherubino-Klimbim nicht übersehen. Als Barbarina ließ Jaye Simmons aufhorchen.

Ein Hoch daher auf die Jugend und Respekt für so manche Mutprobe, etwa Ulrike Steinsky als Marcellina im Fatsuit und später im Häkelblumenkostüm (neben dem immer erfreulichen Stefan Cerny als Bartolo). Noch mehr Mut brauchte Timothy Fallon, im Buffo-Fach eine fixe Größe: Sein Don Basilio musste sich in ein Kostüm mit oberkörpergroßer Vulva zu werfen, auf die ein anderer Mann scharf war... Daniel Schmutzhards Almaviva animierte das Publikum in klassischer Entertainer-Manier, zeigte Unterhose, aber anders als Matilda Sterbys Gräfin wenig vokale Macht.