Früher musste man oft jahrelang warten, bis man endlich eine Karte für die Bayreuther Festspiele bekam. Heute kann man für gewisse Aufführungen noch wenige Tage zuvor Tickets erwerben. Mit anderen Worten: Die Nachfrage lässt nach. Deshalb hat sich Intendantin Katharina Wagner, die Urenkelin des Komponisten, entschieden, neue Wege auszuprobieren, um auch ein jüngeres und technologie-affines Publikum auf den Grünen Hügel zu locken. 2023 wurde eine Neuproduktion von Parsifal gewagt, die unter dem Stichwort „Augmented Reality“ Schlagzeilen gemacht hat. Und für nächstes Jahr ist eine Neuinszenierung des Rings des Nibelungen angekündigt, bei der künstliche Intelligenz eine wichtige Rolle spielen soll.

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Parsifal
© Bayreuther Festspiele | Enrico Nawrath

Im dritten Jahr der AR-unterstützten Parsifal-Produktion haben sich die Wogen etwas geglättet. Aber noch immer stellt sich die zentrale Frage, welchen Gewinn diese erweiterte Realität denn bringt. Verantwortlich für den Einsatz der AR-Technologie ist der Regisseur Jay Scheib, die konkrete Umsetzung für den Bayreuther Parsifal besorgte der Videodesigner Joshua Higgason. Die Zuschauer, die in den Genuss einer AR-Brille kommen, erleben zusätzlich zu dem, was man auch ohne Brille sieht, ein 3-D-Spektakel mit bewegten Gegenständen und Figuren.

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Michael Volle (Amfortas)
© Bayreuther Festspiele | Enrico Nawrath

Die Problematik dieses „Gewinns“ zeigt sich indes auf der technischen, der ästhetischen und der gesellschaftlichen Ebene. Bei meiner Brille beispielsweise, obwohl theoretisch auf meine Sehstärke abgestimmt, war die Sicht so schlecht, dass ich die Handlung meistens ohne sie verfolgte. Beim dritten Aufzug funktionierte sie zudem überhaupt nicht mehr. Gesellschaftlich: von den 1900 Zuschauern bekommen nur 330 eine AR-Brille, was das Publikum in zwei Klassen teilt. Und ästhetisch: Die Animationen, die man durch die Brille sieht, stellen mehrheitlich eine Ablenkung anstelle einer Bereicherung dar, und oft sind sie so banal, dass sie als Deutung nichts taugen.

Georg Zeppenfeld (Gurnemanz), Margret Plummer (2. Knappe), Gideon Poppe (3. Knappe) © Bayreuther Festspiele | Enrico Nawrath
Georg Zeppenfeld (Gurnemanz), Margret Plummer (2. Knappe), Gideon Poppe (3. Knappe)
© Bayreuther Festspiele | Enrico Nawrath

Immerhin: Schon im ersten Aufzug sieht man durch die AR-Brille kahle Bäume und einen ausgetrockneten Boden. Das Thema der Umweltzerstörung erscheint in der „realen“ Inszenierung aber erst im dritten Aufzug. Auf der von Mimi Lien verantworteten Bühne steht eine überdimensionale Bohrmaschine in einer kahlen und vergifteten Landschaft. Die Gralsritter sind zu geschundenen Bergarbeitern mutiert, die, wie der leidende Amfortas, vor sich hinsiechen. Völlig überraschend stellt sich vor diesem Hintergrund Parsifals Erlösungstat dar. Statt den Gral – hier ein Kelchglas in Kobaltblau – erneut zu enthüllen, lässt er ihn zu Boden fallen, worauf dieser in tausend Stücke zersplittert. Hand in Hand mit Kundry, die sich zu einer selbstbewussten Gehilfin gemausert hat, tritt Parsifal dann vor die Kumpel, die ihn (so ist zu vermuten) als künftigen Boss betrachten, der Mensch und Umwelt wieder miteinander versöhnen könnte. Was sich wohl Wagner bei einer solchen Deutung gedacht hätte?

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Ekaterina Gubanova (Kundry) und Andreas Schager (Parsifal)
© Bayreuther Festspiele | Enrico Nawrath

Auf der musikalischen Ebene gibt es Erfreulicheres zu berichten. Pablo Heras-Casado, kein ausgesprochener Wagner-Dirigent, zeigt auch im dritten Jahr seines Parsifal-Dirigats einen eigenständigen Zugang zur Partitur. Das Festspielorchester klingt unter seiner Stabführung erstaunlich weich und lässt die Register miteinander verschmelzen. Der Dirigent wählt relativ zügige Tempi und zerdehnt die Höhepunkte nicht bis zum Geht-nicht-mehr. Auf jeden Fall zelebriert Heras-Casado kein musikalisches Hochamt, was ja zur Inszenierung überhaupt nicht passen würde.

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Jordan Shanahan (Klingsor)
© Bayreuther Festspiele | Enrico Nawrath

Bei den sängerischen Hauptrollen herrscht Kontinuität. Gegenüber 2023 ist einzig Amfortas ausgewechselt. Ob Derek Welton tatsächlich der „Musterschüler“ war, wie ihn meine Bachtrack-Kollegin beschrieben hat, kann ich nicht beurteilen. Auf jeden Fall deutet nun Michael Volle den Part ganz anders. Durch und durch Theatermensch, verkörpert der Bariton das Leiden des verwundeten Gralskönigs szenisch und stimmlich äußerst realistisch. Dass man dabei – in Bayreuth gibt es leider immer noch keine Übertitelungen – jedes Wort versteht, ist ein sehr angenehmer Nebeneffekt. Der Gurnemanz von Georg Zeppenfeld mimt den brillanten Erzähler und schlägt dabei einen Mittelweg zwischen Objektivität und Ergriffenheit ein.

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Andreas Schager (Parsifal) mit Klingsors Zaubermädchen
© Bayreuther Festspiele | Enrico Nawrath

Andreas Schager gibt den Parsifal als ungehobelter Naturbursche: stimmlich manchmal etwas unausgeglichen und schauspielerisch dem Wechselbad der Gefühle ausgeliefert. Kundry, die einzige weibliche Hauptrolle, wird auch dieses Jahr zwischen Ekaterina Gubanova und Elīna Garanča aufgeteilt. Werbung macht der Veranstalter zwar mit Letzterer, aber Gubanova, die bei der Premiere singen durfte, braucht ihr Licht auch nicht unter den Scheffel zu stellen. Die Rollenwechsel zwischen Mutterfigur, verschmähter Verführerin und geläuterter Freundin gelingen ihr auch mit ihrer facettenreichen Mezzosopranstimme blendend. Und der Klingsor von Jordan Shanahan gibt wiederum den Bösewicht vom Dienst.

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Parsifal
© Bayreuther Festspiele | Enrico Nawrath

Der Klingsor-Akt ist nicht nur von der Regieleistung her der gelungenste, sondern hier ereignet sich auch musikalisch die ergreifendste Szene. Es ist die lange Auseinandersetzung zwischen Kundry und Parsifal, wo der Tor durch die Erweckung der Frau zum Wissenden wird. Per Video wird die Szene in starker Vergrößerung an die Wand projiziert, sodass das Publikum sie detailgenau verfolgen kann. Ohne AR-Brille noch viel besser als mit dieser.

Ob die AR-Brillen auch beim Parsifal des Jubiläumsjahres 2026 zum Einsatz kommen, ist noch ungewiss. Es gibt aber eine Diskussion darüber, ob das Experiment abgebrochen werden soll.

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