Die Uraufführung von Tan Duns Requiem for Nature, einer Auftragskomposition des Royal Concertgebouw Orchestras im Rahmen des Holland Festivals war ein Spektakel. Die Komposition ist eine in Teilen neu komponierte Version von Tan Duns 2018 vollendeter Buddha-Passion. „Man kann sie mit den verschiedenen Versionen von Strawinskys Feuervogel vergleichen", sagt Tan Dun „unter Hinzufügung von englischsprachigen Chorstimmen.“

„Normalerweise geht es bei einem Requiem um Menschen und Gott. Aber dieses Requiem ist für alle Völker, alle Arten von Tieren, alle Menschen. Das erste Requiem über die Natur und das Leben. Ich hoffe, es ist nicht nur ein Musikstück, sondern ein Bekenntnis der Menschheit, über die menschliche Gier, die unsere Welt zerstören kann, wenn wir nicht rechtzeitig unsere Sünden bekennen.“
Getragen wurde die Premiere, die Tan Dun in Amsterdam selbst dirigierte, von den vier ganz in weiß gekleideten Solisten: dem ungehört virtuos vortragenden mongolischen Kehlkopfsänger Hasibagen, der auch die zweisaitige Morin Khuur (Pferdekopfgeige) spielte, der Koloratur-kräftigen tibetischen Sängerin Jiangfan Yong, der sowohl schauspielerisch als auch stimmlich beeindruckenden Sopranistin Candice Chung aus Hongkong und der ungemein beweglichen chinesischen Pipa-Spieler Han Yan.
In diesem farbenfrohen und theatralen Werk werden uralte Geschichten miteinander verwoben, um eine der für die Weltbevölkerung momentan relevantesten Frage zu stellen: Wie können wir die Beziehung zwischen Natur und Mensch wiederherstellen?
Tan Dun stützt sein Libretto auf alte Geschichten und Höhlenmalereien aus den Mogao-Höhlen in Dunhuang, einer tibetischen Wüstenstadt, die einst eine wichtige Station entlang der Seidenstraße war. Eine Reihe von Figuren werden aufgeführt, wie das Neunfarbige Reh, das von der Person, die es rettet, aus Geldgier verraten wird, und der Kleine Prinz. Das Neunfarbige Reh ist eine uralte Geschichte, die seit Jahrhunderten in China, Indien, Nepal und Tibet erzählt wird. Es ist eine Geschichte vom Glauben an das Gute, von Mitleid und Verrat.
Die Natur steht im Mittelpunkt: ein Dialog zwischen dem Himmel, dem Meer, dem Wald, den Tieren einerseits und den Menschen mit ihren Schattenseiten andrerseits. Die Teile über die Natur sind neu komponiert, und einige Tierteile wie die des Neunfarbigen Rehs und der Vögel sind der Buddha-Passion entnommen.
Für Tan Dun geht Virtuosität Hand in Hand mit Spiritualität und Kontemplation, Erneuerung mit uralten Traditionen. Tan Dun schuf eine groß angelegte Passion in westlicher Tradition, die von buddhistischen Texten inspiriert ist. Es ist eine Hymne an die Erde, die gleichzeitig den Verlust der Natur durch menschliches Handeln beklagt.
Im KCO gab es neben dem hervorragend intonierenden Blechbläsersatz vor allem eine Glanzrolle für die vier Schlagzeuger: Wasser, Steine, tibetanische Klangschalen, Tanggu und Paigu waren neben den bekannten Trommeln und Röhrenglocken ununterbrochen raffiniert im Einsatz. Der groß besetzte Rotterdamer Chor Laurens Vocaal sang den englischen Text reagierend auf die Gesangssolisten die ihre erzählenden Texte auf Mongolisch, Tibetisch und Kantonesisch sangen.
Tan Dun: „Wenn man mit einheimischen Musikern arbeitet, muss man als Komponist mit ihnen auf rein musikalische Weise zusammenarbeiten. Das macht es auch viel interessanter, als nur etwas für sie zu schreiben. Ich selbst hatte auch keine Notenschrift, als ich in Hunan aufwuchs; ich war ein schamanischer und ritueller Barfußmusiker und hatte, wie die indigenen Sänger in diesem Werk, noch nie etwas von Notenschrift gehört. Die Kombination mit einem westlichen Chor und Orchester ist eine große Herausforderung!”
Tan Duns Requiem for Nature ist mit 90 Minuten ohne Pause ein Werk, dass seine westlichen Zuhörer textuell und musikalisch auf die Probe stellt. Es stellt sich am Ende dieses vielfarbigen exotischen Musikabends die Frage, bis zu welchem Grad wir Westeuropäer chinesische Musik wirklich verstehen können.