Auf den ersten Blick könnte man meinen, da fehlte etwas, nämlich das entscheidende Wort: Bach. Außerdem wäre der Mittelname noch falsch geschrieben: Sebastiani? Wie kann denn das passieren? Es ist Ostern, auf dem Programm steht die Matthäuspassion, hier kann nichts ungewöhnlich sein. Oh doch! Es geht beim Konzert der Wigmore Hall alles mit rechten Dingen zu! Dass man von Johann Sebastiani, 1622 geboren, bei Heinrich Schütz und in Italien ausgebildet, noch kaum gehört hat, muss mit heutigen Kenntnissen schon als erstaunlich gelten. So hat er 1663 mit seinem Musikalischen Schäferspiel nicht nur die erste schriftlich nachgehaltene Oper im deutschsprachigen Raum geschrieben, sondern den Orientierungspunkt für die nachfolgenden Generationen in der Gattung der Vertonung der Leidensgeschichte Jesu gesetzt. In seinem Passionsoratorium von 1672 fügt er nach bisherigem Wissensstand als erster Komponist die Choräle ein, ohne die fortan nichts mehr geht. Ein Aspekt in dem Evangelienwerk ist zudem die Verwendung von Gamben, gleich vier an der Zahl, deren Einsatz in solistischer Ausführung Bach und die allermeisten anderen Komponisten über sechzig Jahre später beibehalten. Aufgrund dieser Besetzung, hinzukommen zwei Violinen und natürlich die Orgel, drängt sich das Stück dem Gambenconsort Fretwork regelrecht auf.
Dessen Leiter Richard Boothby tauschte seinen Platz als Mitspieler mit dem des Dirigenten und richtete vor dem Auftakt ein paar kurze Worte an die Zuhörer des Wigmore Hall-Livestreams, mit denen er diese absolute Rarität vorstellte. Mehr als halb so lang wie Bachs Passion kommt sie nämlich ohne Arien aus. Und diese Kompaktheit in Form eines fließenden, nur durch die Zweiteilung (die zwei Tage der Geschichte abbildend) unwesentlich unterbrochenen Gesprächs frühbarocker Tradition mit gelegentlicher Kommentierung und Einbindung der Menge der Juden und Choralreflexion wartete doch mit einigem Verblüffenden auf. Nicht dass die beiden kontrapunktischen Violinen Bojan Čičićs und Elin Whites in korrekt historischer Spielpraxis in der Haltung unter dem Schlüsselbein getragen und mit entsprechendem Bogen gestrichen wurden, sondern stets beim Einsatz Jesu zusammen mit der Orgel Silas Wollstons – neben den homophonen Tutti der Turbae natürlich – den Effekt offenbarten, das Wort von Gottes Sohn strahle vom Himmel bis zum Erdreich. Diese umfassende Reichweite und Wirkmacht unterlegte Jimmy Holliday mit seinem Bass, der sich in die Farben der Instrumente schmiegte und gleichzeitig von entsprechend warmer und voluminöser Statur war, um die der Rolle Christi umgebende Verlässlichkeit, Ausstrahlung und preisende Brillanz abzudecken.
Jene Töne der Gamben von Emily Ashton, Asako Morikawa, Reiko Ichise und Joanna Levine produzierten einen erhebenden, wohligen Klang, der folglich keine große Theatralik der späteren Passionen generiert, wenngleich der zweite Part zum Kreuzestod durch stärkere Dynamik und den manchmal durch den Turba veränderten Grundrhythmus mehr Dramatik bereithält. Es ist diese Besetzung, die – zumindest heute für mich als Renaissance- und Barockfan, damals im gewohnten Klangbild der gerne benutzten Instrumente zeitgemäß und zielsicher – das Herz aufgehen ließ für die Botschaft des Evangeliums. Auffällig zudem, dass nach dem Tode die (tieferen) Choräle in der Art angestimmt werden, wie wir sie vom Hoch- und Spätbarock dann kennen. Allerdings lediglich vorgetragen vom Sopran in Begleitung des Gambenconsorts, der in der Partitur den Titel Cantus trägt, sind die Choräle zuvor schließlich in Cantus firmus-Manier gefasst. Elisabeth Paul hatte zwar anfangs kleine Ausspracheschwierigkeiten, im „Vater unser“ in der Höhe Eintrübungen, verstand es jedoch, die Gebete und betrachtend-vertiefenden Neuerungen der Gemeindemitnahme bewusst einzubringen.
Wie Jesus trat auch Hugo Hymas als der Hauptakteur überzeugend in Erscheinung, als er ausfüllend und in seinem Stimmfach und Evangelistendasein gleich von famoser Qualität weich, beweglich, durchdringend und leuchtkräftig die Handlung schilderte, gleichwohl lautmalerische Ausdrücke noch ausgefeilter hätten präsentiert werden können. Die Figuren des Pilatus, Petrus, Judas und Caiphas steuerten dessen Bruder Benedict und High Tenor Samuel Boden bei, beide tadellos. Ihnen allen zuzuhören, bescherte Sebastianis Stück die Auszeichnung, diese äußerst lohnenswerte Passionsalternative unbedingt in den Kanon der regelmäßig aufgeführten Ostermusiken aufzunehmen.
Die Vorstellung wurde vom Livestream der Wigmore Hall rezensiert.