Es sind immer wieder die barocken Opern, die wegen ihrer landläufig oft als altertümlich empfundenen Textbücher vom Publikum gemieden werden, in erfrischend modernen Inszenierungen jedoch zu enormen Drive aufdrehen können. Bayerische Händel-Liebhaber dürfen derzeit den Luxus genießen, gleich zwei Inszenierungen der Alcina zu erleben, die als einer der frühesten Opernstoffe der Geschichte von einer Zauberin erzählt, die auf einer Insel im Mittelmeer lebt und reich, schön und mächtig ist, daneben eine Reihe von schiffbrüchigen oder gefangenen Personen, die dieses Schlaraffenland genießen dürfen.
Menschen, die sie loswerden möchte, verwandelt Alcina gern mal in Tiere oder leblose Gegenstände. Als Mann an ihrer Seite hat sie den gestrandeten Soldaten Ruggiero verzaubert und seine Erinnerung gelöscht, doch da kommt eine Rivalin ins Spiel: Bradamante hat erfahren, dass ihr zunächst als verschollen geltender Verlobter auf dieser Insel gefangen ist. Mit ihrem Gefährten Melisso tauscht sie Kostüm und Anzug und dringt als Ricciardo inkognito in Alcinas Reich ein, um Ruggiero zu befreien und seiner Bestimmung als Kriegsheld zuzuführen. Alcinas flippige und geltungssüchtige Schwester Morgana verliebt sich prompt in diesen Ricciardo, ihr bisheriger Liebhaber Oronte, eine Art „Maître de plaisir“ am Hofe, ist in seiner Eitelkeit gekränkt.
Nach der erst kürzlich am Münchner Gärtnerplatztheater herausgebrachten Inszenierung bezirzt nun das Staatstheater Nürnberg sein Publikum mit prachtvollen Bildern und Klangfarben. Jens-Daniel Herzog, Intendant der Nürnberger Bühnen, stellt Alcina als selbstsichere Herrscherin dar, die lange Zeit alles im Griff zu haben scheint, vor allem die Männer, und dann immer mehr erkennen muss, wie sie ihre Bedeutung verliert, Ruhm, Sex und Macht verlöschen; die Liebe zu Ruggiero erweist sich als eine große Selbsttäuschung. Ihr Zauber versagt, Felsen und Tiere verwandeln sich in Menschen zurück, ihre Scheinwelt stürzt ein.
Herzog geht in seiner Inszenierung dem psychologischen Drama nach, das sich zwischen den Figuren abspielt. Zusammen mit seinem Ausstattungsteam (Bühne mit klassizistischem Charme: Mathis Neidhardt) lässt er Alcinas Zauberwelt prunkvoll und detailreich mysteriös glänzen, indem er die Handlung in Kostüme und Bühne der Goldenen Zwanziger Jahre verlegt. Nicht die Abgeschiedenheit einer einsamen Insel trennt die Bewohner von der Welt, sondern eine bühnenhohe dunkle Ziegelmauer; Sinnbild eines Einschlusses, den überraschend offene Tore letztlich durchlässig werden lassen.
Dass alle Rollen aus imponierenden Kräften der Nürnberger Opernbühne besetzt werden konnten, macht diesen Abend besonders wertvoll. Julia Grüter, seit Jahren am Staatstheater vielbeschäftigt zwischen Susanna und Sophie sowie Preisträgerin beim ARD-Musikwettbewerb, konnte auftrumpfend den Glamour einer hocheleganten Herrscherin, die erotische Verführungskunst einer manipulativen Zauberin stimmlich wie schauspielerisch ebenso überwältigend ausstrahlen wie die dramatische Wahrnehmung ihres Abstiegs in die Bedeutungslosigkeit.
Man besetzt den Ruggiero oft mit einer Counterstimme. Die Nürnberger Lösung bescherte einige der schönsten Momente des Abends: Corinna Scheurle, stimmlich mit reichen Koloraturen und Mezzoschimmer glänzender Sopran, war in schwarzem Frack ein so überzeugender Ritter, dass man sich verblüfft die Augen reiben musste. Sibylle Gädeke hatte in der Maske ganze Arbeit geleistet!
Was die Macht der Liebe alles in Bewegung setzen kann, brachte Sara Šetar als Bradamante feinfühlig und anrührend auf die Bühne. Ihr heller, emotionsvoller Mezzosopran unterstrich dabei die Wechselbäder für ihre liebende Seele, wenn sie Amor um Wut und Kraft anruft. Ein toller Regieeinfall, wenn dabei vor ihrem und unserem Auge die erhofften Lebenssituationen in leichtfüßigem Ballettschritt vorbeilaufen. Einfühlsam präsent und stimmlich bewegend der Bass-Bariton Demian Matushevskyi als zuverlässiger Melisso, der Bradamantes Enttäuschungen auszugleichen wusste.

Morgana, von Chloë Morgan lustvoll kapriziös verkörpert und in reizenden Sopranhöhen herausragend, hätte eigentlich alles, um glücklich zu sein; doch das Leben neben der mächtigen Schwester und dem schwachen Oronte befriedigt sie nicht mehr. Den wiederum charakterisierte der Tenor Martin Platz zwischen Contenance eines Butlers des 19. Jahrhunderts und Slapstick eines Dinner for one vor einer Champagnerbar absolut hinreißend, stimmlich gewohnt hochprozentig. Herzerweichend der kleine Oberto in der Figur von Veronika Loy, auf der Suche nach seinem verschwundenen Vater; ist der große Stofflöwe, den Oberto permanent mit sich herumschleppt, der vielleicht verzauberte Vater?
Liebevoll eingepackte Details, die den Charme intensiver Cabaret-Szenen, Geschwindigkeit und Witz, geschickte Täuschung in Klamotten und Geschlecht hatten. Und wie schon Händel sein Londoner Publikum mit Tanzszenen verwöhnen wollte, gab es auch in Nürnberg rasante Balletteinlagen von szenisch herrlich karikierenden Tänzern im Sixpack, die in der Laune von aufschäumendem Champagner genauso rasch aufbrausten wie verschwanden.
Bleibenden Eindruck machte, wenn gegen Ende Bradamante, Ruggiero und Melisso ihre Koffer packen und der hermetischen Abriegelung entfliehen. Und wie nach und nach die Festgehaltenen von Alcina abrücken und immer mehr Koffer die Bühne füllen. Macht ein Dauer-Schlaraffenland gar weniger glücklich als allgemein erwartet? Die Soldaten jedenfalls sammeln sich zum nächsten Einsatz.
Bezaubernden musikalischen Impetus gab die Barockmusikspezialistin und Blockflötistin Dorothee Oberlinger reichlich, die einen vielschichtig historisierenden sowie in den Tempi elastischen Orchesterklang der Staatsphilharmonie formte: ein weiteres, gewichtiges Hörvergnügen! Den Chor hatte Tarmo Vaask trefflich vorbereitet.
Mitte Juli 2026 wird die Münchner Staatsoper als dritte bayerische Bühne Alcina neu in den Spielplan bringen. Um mit Herzogs Nürnberger Produktion konkurrieren zu können, wird man sich da gehörig strecken müssen!