Oberflächlich betrachtet bieten alle Sommerfestivals für klassische Musik einen Einheitsbrei: dieselben Künstler, dieselben Programme. Doch das Verbier Festival in den Walliser Alpen, das heuer vom 16. Juli bis zum 3. August dauert, macht da eine Ausnahme. Sein Markenzeichen ist die Kammermusik. Und zwar dergestalt, dass nicht feste Ensembles eingeladen werden, sondern dass sich die Musikerinnen und Musiker, die normalerweise mehrere Tage am Festival anwesend sind, zu „spontanen“ Formationen vereinigen. „Rencontres inédites“ heißen diese Kammermusikformate, die sich hier seit Jahren großer Beliebtheit erfreuen.

Das dritte dieser Rencontres, das wegen der starken Publikumsnachfrage nicht in der Kirche von Verbier, sondern in der Salle des Combins mit ihren 1400 Sitzplätzen stattfand, war nahezu ausverkauft. Wo sonst in der Klassikszene gibt es so etwas? Auf dem Programm standen zwei zugkräftige Kammermusikwerke von Johannes Brahms, gespielt von erstklassigen Künstlern ihres Fachs. Den Anfang machte das Klavierquartett Nr. 1 in g-Moll, Op.25. mit Sergei Babayan, Janine Jansen, Timothy Ridout und Daniel Blendulf. Das Besondere an dieser Besetzung liegt nicht nur daran, dass die vier Musiker kein festes Ensemble bilden, sondern dass sie drei verschiedenen Generationen angehören: Der Pianist Babayan ist 64 Jahre alt, die Geigerin Jansen 47, der Cellist Blendulf 43 und der Bratschist Ridout erst 30.
Mochte man als Kritiker zu Beginn vielleicht etwas skeptisch sein, war man am Schluss hell begeistert. „It works“, würde der Engländer sagen. Die Kombination funktionierte tatsächlich, die vier Musiker bildeten eine harmonische Einheit. Der Pianist und die Geigerin führten klar, aber ohne aufdringliche Dominanz. Der Bratschist orientierte sich sicht- und hörbar an der Geigerin, gerade da, wo die beiden Instrumente, wie etwa im zweiten Satz, in parallel geführten Melodien fortschreiten. Auch Blendulf ist ein Teamplayer und hält das Geschehen rhythmisch zusammen. Der gemeinsam erarbeitete Interpretationsansatz kann als ausgesprochen romantisch und leidenschaftlich bezeichnet werden, wobei immer wieder eine große Bandbreite des musikalischen Ausdrucks zu beobachten war. Im Schlusssatz, dem Rondo alla Zingarese, wuchsen die vier Spieler förmlich über sich hinaus und entfachten eine Glut, die man vor dem Zeitalter der Political Correctness als betörenden Rausch einer Zigeunerkapelle beschrieben hätte.
Das Klaviertrio Nr. 1 in H-Dur, Op.8 weist einen anderen Charakter auf. Vor allem, wenn es nicht in der Originalversion des 20 Jahre jungen Brahms, sondern in der überarbeiteten Fassung des 56-Jährigen gespielt wird. Brahms hatte sein Jugendwerk 1889 verdichtet und gekürzt, aber auch „entbiographisiert“. Das Clara-Thema des vierten Satzes, das 1853 für die Liebe zur verheirateten Clara Schumann stand, fiel nun der Tilgung zum Opfer. Bei der Interpretation gilt es also, den objektivierten und strengen Charakter der Zweitfassung zu berücksichtigen.
Genau dieses Kunststück gelang dem Ad-hoc-Trio. Mit Janine Jansen vereinten sich diesmal der Pianist Daniil Trifonov (34) und der Cellist Mischa Maisky (77), womit also erneut ein Drei-Generationen-Ensemble zustande kam. Hatte man hier noch mehr befürchtet, dass diese Kombination schiefgehen könnte, so wurde man ebenfalls eines Besseren belehrt. Trifonov, der sich bei seinen Soloauftritten meistens als junger Wilder gebärdet, verstand seine Rolle in echt kammermusikalischer Art. Und Maisky, der in früheren Jahren gerne als Showman auftrat, verwandelte sich in einen unprätentiösen Diener am Werk. Gewisse Intonationstrübungen wären früher allerdings auch nicht vorgekommen. So war es Jansen, die das musikalische Geschehen mit ihrem engagierten und einfühlsamen Spiel anführte.
Was die Akustik des Salle des Combins betrifft, muss man leider bemerken, dass das zeltartige Gebäude den Vergleich mit einem fix gebauten Konzertsaal nicht aufnehmen kann. Schon in der achten Reihe hatte man den Eindruck, als ob die Klänge der Ausführenden in Watte eingehüllt wären. Wie musste sich das gar in der 33. Sitzreihe anhören? Vielleicht wäre die Eglise de Verbier doch eine Alternative.
Ein Teil der Hotel- und Reisekosten von Thomas Schacher wurden vom Verbier Festival übernommen.