Wenn Teodor Currentzis mit seinem 2022 gegründeten Utopia-Orchester ein Konzert gibt, dann erklingen intensive Interpretationen. Doch dass es nur um die Selbstdarstellung des Dirigenten geht, wie neuerdings fast durchweg in der Presse zu lesen ist, gehört zu den vielen Klischees, denen sich allein mit der Partitur in der Hand und geöffneten Augen und Ohren begegnen lässt.

Im ersten Teil des jüngsten Konzertes, das Currentzis mit seinem internationalen Festivalensemble in Berlin gegeben hat, erklang Brahms’ Zweites Klavierkonzert mit dem jungen französischen Pianisten Alexandre Kantorow. Der Flügel wurde ohne Deckel in das Orchester gestellt, so dass ein Augenkontakt zwischen Dirigent und Solist ermöglicht wurde, der nicht gegeben ist, wenn das Instrument vor das Orchester gestellt wird. Hat der vermeintlich autoritäre Pultstar womöglich sogar der Entmachtung des Solisten durch das Orchester, das in anderen Aufführungen dieses Klavierkonzerts nicht selten zu beklagen ist, mit Erfolg entgegenwirkt? Wenn der Begriff der „Symphonie mit obligatem Klavier“ für Brahms Op.83 berechtigt gewählt ist, dann wurde er so zumindest gestützt.
Man kann sich an den exaltiert-ausladenden Gesten des Dirigenten stören und auch danach fragen, warum die Streicher mitunter aufzustehen haben, um eine Passage zu spielen. Man kann aber auch die Partitur mitlesen, um festzustellen, dass die Zuspitzung des Werkes Manches zu Gehör bringt, was dann verlorengeht, wenn der Akzent ausschließlich auf eine vermeintliche „spätromantische Versonnenheit“ gelegt wird, die diesem Klavierkonzert keinesfalls grundsätzlich anhängt.
Den Anfang siedelte er wie in ein Zwischenreich von Naturlaut und Improvisation an, und auch das für Brahms so typische Verschleiern der Reprise nach dem Höhepunkt in der Durchführung gelang ausgesprochen gut. Im zweiten Satz kehrte er Widerborstiges hervor, weil er Brahms’ Rhythmik wie im Vorgriff auf die Offbeats im Jazz ausgelegt hat.
Umsichtig vermochte Kantorow die Balance der einzelnen Stimmen auszutarieren – etwa wenn er in der Improvisation zu Beginn im Bass das Hornmotiv deutlich hervorhob. Im dritten Satz wurde er zum Lied-Begleiter zunächst des Cellisten Konstantin Pfiz, der glänzend auf seinem Instrument das Hauptthema zu singen wusste, dann des Klarinettisten Spyridon Mourikis, der sein Liedzitat tatsächlich im ppp vortrug und dennoch nicht von den Tönen des Pianisten übertönt wurde. Das Finale wurde im Ton errungener Heiterkeit musiziert: ausgelassen, aber nicht leichtsinnig über die Varianten hinwegspielend. Die scheinbare Mühelosigkeit, mit der Kantorow seinen Part sprudeln ließ, dürfte Brahms gefallen haben.
In der Vierten Symphonie von Mahler gelang es Currentzis und dem Orchester, jene Humoreske zu Gehör zu bringen, die uns fremd ist und darum schauerlich-grauenvoll wird. Wenn es etwas zu beklagen gäbe, dann beträfe das ein grundsätzliches Problem, das nahezu alle heutigen Mahler-Interpretationen betrifft. Weder das wienerische, noch das böhmische Idiom ist noch mehr als geahnt hörbar: weder im Grazioso-Hauptthema des Kopfsatzes, noch in den Ländler-Themen des zweiten Satzes. Das sind die verloren gegangenen Selbstverständlichkeiten.
Besonders gelungen erschien der langsame Satz mit seinen Doppelvariationen. Nie verlor man die Orientierung beim Versuch, zu hören, welches der beiden Themen gerade variiert wurde, weil Currentzis die Fäden zusammenzuhalten verstand. Im Finale, dem Wunderhorn-Lied über „Das himmlische Leben“, trat die Sopranistin Regula Mühlemann auf das Podium. Sie sang ihren Part schlicht und tonschön. Currentzis ließ Behaglichkeit aber erst zu, als im Text nicht mehr von Metzelei und Schlachterei die Rede ist. Am Ende schlief die Musik ein – ausgerechnet da, wo im Text das Wort „erwacht“ zu hören ist.