„Überwältigend“, ja „Wahnsinn“: das war der Tenor, in dem sich die Besucher von Teodor Currentzis' nachmittäglichem Konzert in der Münchner Isarphilharmonie einig waren. Der griechische Pultstar, Musiker und Schauspieler mit russischem Pass, im Gegensatz zu anderen Künstlern wie etwa Vladimir Jurowski (öffentlich) politisch indifferent hinsichtlich Russlands Krieg in der Ukraine, begeisterte einmal mehr durch seine charismatische Orchesterleitung und ungewöhnlich unbändige, kräftezehrende Vitalität; diese gipfelte bereits vor einigen Monaten, bei Mozarts Don Giovanni während der Salzburger Festspiele, in einem fulminanten Hörerlebnis. Nun wiederum dabei Currentzis' eigenes Projektorchester Utopia, das in diesem Konzert circa 100 Musikerinnen und Musiker umfasste, die aus mehr als 30 Ländern zusammengerufen worden waren.

Teodor Currentzis © Sébastien Grébille
Teodor Currentzis
© Sébastien Grébille

„Reflexionen“ war das etwas allgemein gehaltene Motto des Konzerts; und Rückbesinnung sowie Suche nach der eigenen Identität waren auch Keimzelle der Passacaglia – Music for Orchestra IX von Jay Schwartz, der, in Kalifornien als Sohn deutscher Einwanderer geboren, nun an mehreren europäischen Theatern arbeitet und mit der Auftragsarbeit von Utopia Orchestra und Schubert Project Fonds eine gewaltige dionysische Klangskulptur schuf. Deren Uraufführung hatte erst wenige Tage zuvor Currentzis in Berlin geleitet. Die zeitlose Problematik von (Aus-)Wanderung und Außenseitertum findet Schwartz im Schubert-Lied Du bist die Ruh, greift sieben Momente daraus auf, in denen die Gesangslinie stetig aufwärts steigt. Zwölfmal lässt er sie durch ein Geflecht von scheinbar endlosen Glissandi wandern: stufenlos gleitende Töne und Harmonien, wie sie für Schwartz' Œuvre charakteristisch sind.

In die Totenstille der Philharmonie schob sich ein achtmaliger Paukenwirbel, jeweils unendlich langsam auf- und abschwellend, wie zeitlupenhaftes Pulsieren von Atemzügen. Raues Reiben der Celli trat hinzu, Posaunen und Tuben, dann Bratschen: nach und nach nahm die Passacaglia Fahrt auf, wie ein Gewittergrollen, ohne dass das ursprüngliche Schubert-Motiv besonders deutlich hervortrat. Mit dem hohen Summen der Geigen fühlte man sich an einen gewaltigen Bienenschwarm erinnert, den ein Schlag der großem Trommel aufreißt und Sonnenlicht hindurch scheinen lässt. Eine faszinierend aufgepeitschte Klangbrandung, auf der die Musiker und Currentzis aufrecht in Arm- und Körperbewegung geradezu surften.

Bei Schwartz wie Mahler war es fesselnd zu erleben, wie die Körpersprache der fast sämtlich stehenden Musiker ihre eigene, ungeheure Freude ausdrückte, die phänomenale Gestik des Dirigenten in Begeisterung weitertrug. Und wie diese Euphorie auch im Publikum das Erlebnis Hören verstärkte.

Hatte Mahler es anfangs seinen Hörern leicht gemacht, indem er Singstimme und Lieder in seine Symphonie integrierte, wollte er in seiner Fünften Symphonie in cis-Moll die Eigenständigkeit solistischer instrumentaler Linien betonen. Schon das einleitende Trompetensolo zum Trauermarsch weist in diese Richtung: wunderbar erhaben stellte es der Solist von Utopia in den Raum, weich artikulierend und doch insistierend rhythmisch spann Utopia die Sequenz weiter. Nach wildem Aufbäumen dann wieder die ergebene Marschweise, neu beleuchtet mit der Melodie des „Freudenlichts“ aus seinen Kindertotenliedern, zu leidenschaftlichem Anstieg und stillem Trost.

Eine diabolische Höllenfahrt inszenierte Currentzis im Stürmisch bewegt des zweiten Satzes, bis von den Celli eine Trostmelodie ausgebreitet wurde, die in einem choralartigen Höhepunkt mündete. Wer noch Leonard Bernsteins Mahler-Sicht mit von Ermattung und Resignation geprägten Wendungen im Ohr hat, wird bei Currentzis eher Züge von Bestürzung und Klage finden, deren immanente Energie den Blick nach vorn richtet, Zuversicht ausstrahlt.

Naturlaute und erdnahe Daseinsfreude prägten das Scherzo, oft sanft und naiv, wenn die Musiker schon mal fast komplett innehielten und das Zauberhafte bis in die letzte Faser auskosteten. Wie mit breitem Flügelschlag schwebend das Adagietto, majestätisch kraftvoll ohne Eile, aus einer anderen Welt: können Adler wirklich lächeln? Unter elektrisierender Hochspannung schließlich das Furioso des Rondo, ausgelassen-karnevalesker Kehraus, solistische Brillanz aus dem Utopia Orchester, das das Rauschhafte der vorigen Sätze abstreifte, ohne auszubuchstabieren, ein bis in die letzten Winkel ausgeleuchtetes Erlebnis bescherte.

Standing ovation, standing singing: wo hat ein Dirigent schon nach Mahlers Fünften eine Zugabe hinzugefügt? Teodor Currentzis erklärte in den frenetischen Applaus hinein, dass er Musik von Bach mit dieser emotionalen Klangreise verbinden möchte: den Choral Jesus bleibet meine Freude aus der Kantate 147, dessen Auf und Ab der melodischen Linie, aus dem Leben genommen, nur Streicher und Oboen im lebhaften Neun-Achtel-Satz mit ihren Instrumenten spielten, die anderen aber, in Verbindung mit einigen choralfesten Zuhörern, im Stehen sangen. Tief berührend am Ende dieses symphonischen Widerhalls eines Mahler, der Bachsche Orchestersuiten in modernes Instrumentarium fügte, und ein langes, tröstendes Diminuendo in Bachs orchestralem Nachspiel.

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