Augustin Hadelich bin ich zum ersten Mal vor zwei Jahren am Verbier-Festival begegnet. Zusammen mit Sergei Babayan und Mischa Maisky interpretierte er damals Dvořáks „Dumky“-Trio. In den Vereinigten Staaten zählt der in New York wohnende deutsch-amerikanische Violinist zu den Stars der Klassikszene; in Europa, wo er immer wieder mit den berühmtesten Orchestern auftritt, ist er viel weniger bekannt als beispielsweise Joshua Bell oder Hilary Hahn.

Am diesjährigen Lucerne Festival bot sich die willkommene Gelegenheit, dem Künstler im Konzertsaal und beim anschließenden Talk persönlich zu begegnen. Zusammen mit dem Orchestre de Paris unter der Leitung von Esa-Pekka Salonen spielte er das unsterbliche Konzert für Violine und Orchester D-Dur, Op.77 von Johannes Brahms. Die Interpretation war eine musikalische Sternstunde. Hadelich verzichtet im Gegensatz zu vielen seiner Kolleginnen und Kollegen ganz auf Show-Elemente in seinem Spiel, wodurch man als Zuhörer eine gewisse Anlaufzeit, um von diesem Ausnahmekünstler in den Bann gezogen zu werden.
Bei mir hat dies bereits im ersten Satz stattgefunden. Brahms kommt dem Solisten nicht gerade entgegen, ist seine Komposition doch über weite Strecken mehr eine Symphonie mit obligater Violine als ein mit eingängigen Melodien bestücktes Solokonzert à la Mendelssohn. Dafür ist es mit technischen Tücken vollgespickt, die eine handwerkliche Akrobatik der Extraklasse erfordern. Hadelich meistert all dies mit einer an Paganini gemahnenden Selbstverständlichkeit, als ob es die einfachste Sache der Welt wäre. Eine gewisse Anspannung ist ihm dann doch anzumerken, als er vor der Kadenz den Hemdkragen lockert und sich den Schweiß abwischt. Der Geiger spielt eine eigene Kadenz, bei der einem der Atem stockt. Diese Kombination von extremer Virtuosität und emotionaler Durchdringung sucht seinesgleichen.
Interpretatorisch fahren Hadelich und Salonen auf derselben Schiene. Beide pflegen eine straffe Lesart mit relativ schnellen Tempi und wenig Rubatospiel. Da erklingt eher ein Brahms der norddeutschen Strenge als der wienerischen Gefühligkeit. Zudem betonen beide den symphonischen Charakter des Konzerts, indem sie den Dialogen zwischen Soloinstrument und einzelnen Orchesterinstrumenten große Bedeutung zumessen. Im Finale ist dann die Strenge vergessen: Der überschäumende Charakter dieses an der ungarischen Volksmusik inspirierten Rondos kommt voll zur Geltung. Für den großen Applaus bedankt sich Hadelich mit einem eigenen Arrangement des Tangos Por una cabeza von Carlos Gardel. Am Schluss desselben huscht ihm ein verschmitztes Lächeln über das Gesicht. „Hört ihr“, scheint er zu denken, „ich kann auch ganz anders.“
Was das Orchestre de Paris alles draufhat, zeigt sich noch deutlicher in der Orchestersuite Romeo und Julia, Op.64 von Sergej Prokofjew, aus der elf Sätze gespielt werden. Die Qualitätsunterschiede zum Orchestre Philharmonique de Radio France, das vor einigen Tagen in Luzern gastiert hat, springen in die Ohren. Durch die Leitung eines erfahrenen Gastdirigenten wie Salonen wird das französische Spitzenorchester seinem Ruf vollends gerecht. Nach der strengen Deutung des Brahms-Konzerts zeigt der finnische Maestro hier eine ganz andere Seite und kostet die klangliche Vielfalt der Partitur nach Kräften aus. In der berühmten Balkonszene präsentiert das Orchester ein ergreifendes Seelengemälde, das den Bogen von den zärtlichsten Regungen bis zum leidenschaftlichen Ausbruch spannt. Und im Satz Romeo am Grabe Julias entfachen insbesondere die Blechbläser einen Sound, der zu Herzen geht.