Um welche bekannte Oper handelt es sich hier? Ein Mann hat als Junge etwas Schreckliches erlebt: Seine Mutter wird im kleinen norwegischen Dorf vom Platzhirsch vergewaltigt. Nachdem sie von der Dorfgemeinschaft verstoßen wird, erhängt sie sich vor den Augen ihres Sohnes. Nach vielen Jahren in der Fremde reich geworden, kehrt der Mann wieder in sein Heimatdorf zurück. Er verliebt sich in die Tochter des Platzhirschs und hofft, dass ihre bedingungslose Liebe ihn von seinem Fluch erlösen könnte. Die Tochter willigt scheinbar ein, der Vater wittert ein gutes Geschäft. Doch die Dorfbewohnter bedrohen den Mann, weil sie ihn für einen Fremden halten. Da feuert er drei tödliche Schüsse auf sie ab. Die Ehefrau des Platzhirschs rächt sich ihrerseits, indem sie den Mann erschießt. Die Mörderin und ihre Tochter umarmen sich. Vorhang.
Bekanntes Stück? Ja, das ist die Oper Der fliegende Holländer in der Version von Dmitri Tcherniakov, die an den Bayreuther Festspielen nun im vierten Jahr gezeigt wird. Während die vom Regisseur erfundene Vorgeschichte auf einem Video gezeigt wird, erklingt im Graben Wagners Ouvertüre, dirigiert von Oksana Lyniv. Die Musik exponiert zwei Leitmotive, die den Kern der Handlung wiedergeben. Da ist zum einen das wild dreinfahrende Holländer-Motiv der Bläser, das von wogenden Streicherfiguren begleitet wird, zum andern das lyrische Senta-Motiv der Holzbläser.
Die Bedeutung dieses Themas erfährt man im zweiten Akt bei Sentas Ballade: „Doch kann dem bleichen Manne Erlösung einstens noch werden, fänd er ein Weib, das bis in den Tod getreu ihm auf Erden!“ Diese Erlösung wird am Schluss der Ouvertüre musikalisch bereits vorweggenommen, wenn das Holländer-Motiv nochmals triumphal erscheint und die Musik zum Senta-Motiv, das von einer Harfe begleitet wird, in luftige Höhen entschwebt. Genau diese Erlösungsmusik erklingt auch am Schluss der Oper, wenn der Holländer und Senta, gemäß Wagners Regieanweisungen, „beide in verklärter Gestalt“ dem Meer entsteigen.

Wenn die Festspiel-Intendantin Katharina Wagner einen Regisseur wie Tcherniakov engagiert, kann man nicht erwarten, dass eine rein bebildernde Inszenierung herauskommen wird. Das Ziel der Intendantin ist es ja, die Festspiele auch dem Geschmack eines heutigen Publikums zu öffnen. Neben Tcherniakov sind diesen Sommer beispielsweise auch die Arbeiten von Thorleifur Örn Arnarsson (Tristan), Valentin Schwarz (Ring) oder Tobias Kratzer (Tannhäuser) zu sehen. Die Erlösung des Mannes durch eine (vorwiegend passive) Frau – zentral sowohl im Tannhäuser wie im Holländer – ist für heutige Regisseure ein wenig attraktives Thema. Tcherniakov weicht ihm aus, indem er dem Fliegenden Holländer eine Thematik aufsetzt, die sich nicht zwingend aus dem Stück ergibt: Der Kern seiner Aussage lautet, dass eine geschlossene (dörfliche) Gemeinschaft die Fremden und Andersartigen ausgrenzt und sie entweder in den Selbstmord treibt oder sie tötet.
Die Details der Tcherniakov-Inszenierung sind auf Bachtrack bereits von Michael Vieth (2021) und Alexandra Richter (2022) beschrieben worden. Aus meiner Sicht gibt es noch zwei Punkte zu ergänzen. Die grundsätzlich stringent erzählte Story funktioniert erstens nur aufgrund der vom Regisseur erfundenen Vorgeschichte. Der Holländer rächt sich für den Selbstmord seiner Mutter. Zweitens divergieren Musik und Handlung oft bis an die Schmerzgrenze. Beim großen Liebesduett zwischen Senta und Holländer im zweiten Akt besingt die Musik das Einswerden, die Körpersprache Sentas dagegen ihre Auflehnung.
Musikalisch besticht die diesjährige Wiederaufnahme durch großartige Leistungen auf allen Ebenen. Michael Volle ist ein Holländer, wie ihn wohl alle Opernhäuser der Welt wünschen. Ideal verkörpert er die Rolle dieses getriebenen, unerlösten Untoten. Sein phänomenaler Bariton vermag mühelos vom kammermusikalischen Parlando zum verzweifelten Herausschreien zu wechseln. Dass er ab dem zweiten Akt an einer Krücke geht – Arbeitsunfall, wie man hört – tut seiner Bühnenpräsenz keinen Abbruch.
Sensationell auch die Senta von Elisabeth Teige. Als selbstbestimmte Frau will sie sich weder vom Vater noch vom Freund etwas vorschreiben lassen, und für die Aufopferung für das Seelenheil dieses Untoten fühlt sie sich einfach noch zu jung. Stimmlich mit einem eher dunklen Timbre ausgerüstet, begeistert sie insbesondere in den dramatischen Passagen mit viel Power.
Georg Zeppenfeld als Daland vervollständigt das Terzett der drei außerordentlichen Charaktere. Mit voluminösem, gut fokussiertem Bass mimt er den berechnenden Strippenzieher sehr realistisch. Der Erik von Eric Cutler, mit einer strahlenden Tenorstimme gesegnet, wäre eigentlich der ideale Partner für Senta. Möglich, dass sie sich nach dem gewaltsamen Tod des Holländers doch noch für ihn entscheidet. Matthew Newlin, ein Bayreuth-Neuling, gibt den Steuermann als naiven Burschen, der nur von seinem Mädchen träumt. Aufgewertet und umgedeutet ist die Rolle der Mary, die von der Amme zur Gattin Dalands befördert wird. Nadine Weissmann beobachtet das Geschehen meistens stumm, bis sie am Schluss zur Flinte greift.
Frauenpower auch im Orchestergraben. Die Ukrainerin Oksana Lyniv, 2021 als erste Frau bei den Bayreuther Festspielen engagiert, ist definitiv in ihrer Dirigentenrolle angekommen. Unter ihrer Stabführung erzählt das Festspielorchester den Fliegenden Holländer als packendes Drama. Wie sie schon bei der Ouvertüre die unheimliche Holländer-Sphäre mit der empathischen Senta-Sphäre kontrastiert, so stellt sie auch im weiteren Verlauf die Höhen und Tiefen der Handlung als von der Musik gesteuerte Ereignisse dar. Einen Höhepunkt diesbezüglich bildet im dritten Akt das Aufeinanderprallen von Dalands Matrosen und der Mannschaft des Holländers. Der von Eberhard Friedrich vorbereitete Festspielchor begeistert nicht nur in dieser Szene mit phänomenalem Können und umwerfender Bühnenpräsenz.