Ein Debüt zum Saisonabschluss: Für das letzte Konzert des Tonhalle-Orchesters Zürich vor der Sommerpause wurde mit Joana Mallwitz eine Dirigentin eingeladen, die noch nie in der Tonhalle dirigiert hat. Die 37 Jahre junge Hildesheimerin ist indes im deutschen Sprachraum längst keine Unbekannte mehr. 2019 wurde sie von der Zeitschrift Opernwelt zur „Dirigentin des Jahres“ gekürt. 2020 erregte sie an den Salzburger Festspielen mit Mozarts Così fan tutte großes Aufsehen. Nach Stationen als GMD in Erfurt und Nürnberg ist sie seit der Saison 2023/24 Chefdirigentin und Künstlerische Leiterin des Konzerthausorchesters Berlin.

Gustav Mahlers Erste Symphonie, die Mallwitz in Berlin zu ihrem Einstand dirigiert hatte, brachte sie nun auch nach Zürich mit. Und auch hier wurde die Aufführung zu einem packenden Erlebnis. Als Vorspeise diente das Violinkonzert von Bryce Dessner, der bei der Tonhalle in dieser Saison den Posten des Creative Chair innehat. Das 2021 entstandene und uraufgeführte Werk fügt sich gut in die Reihe der Kompositionen des amerikanischen Komponisten ein, die man bisher in Zürich gehört hat.
Noch stärker als beim Klavierkonzert tritt beim Violinkonzert das Modell der Minimal Music in den Vordergrund. Und auch beim Violinkonzert spürt man, dass Dessner mit einem Bein in der Rockmusik verankert ist. Den Solopart spielt der Geiger, Dirigent und Komponist Pekka Kuusisto, auch er ein Grenzgänger zwischen den Sparten. Kuusisto offenbart sich nicht nur als blendender Virtuose, sondern auch als glänzender Entertainer. Mit sichtlicher Freude strampelt er sich an seinen Sechzehntelfiguren ab, wetteifert mit dem Orchester oder improvisiert seine Kadenz aus dem Stegreif.
Während Mallwitz Dessners Konzert für sich neu erarbeiten musste, bewegt sie sich in Mahlers Symphonie Nr. 1 in D-Dur auf vertrautem Terrain. Und das Tonhalle-Orchester natürlich auch. Einmal mehr erstaunt, wie dieser Klangkörper auch bei solchen Evergreens die Fähigkeit besitzt, auf die spezifischen Intentionen unterschiedlicher Dirigentenpersönlichkeiten einzugehen. In den letzten Wochen musizierte das Orchester mit seinem gestrengen Chefdirigenten Paavo Järvi, mit dem gebrechlichen Altmeister Herbert Blomstedt und nun mit dem jugendlichen Energiebündel Mallwitz.
Was ist denn die Besonderheit ihrer Mahler-Interpretation? Als Hörer hat man den Eindruck, dass die Dirigentin das musikalische Geschehen zu imaginären Geschichten verdichtet. Da kommt ihr die Bildhaftigkeit von Mahlers Erster natürlich sehr entgegen. Die langsame Einleitung des Kopfsatzes dirigiert sie quasi als Entstehung der Welt; und wenn dann in den Violoncelli das Hauptthema mit dem Liedzitat „Ging heut´ morgen übers Feld” anhebt, ersteht vor unseren Augen ein jugendlicher Held, der sich auf seine Lebensreise begibt. Er reibt sich an den Widerwärtigkeiten der Welt, erlebt Freud’ und Leid, Niederlagen und Siege.
Handwerklich verfügt Mallwitz über eine perfekte Schlagtechnik und ein Temperament, das vom Zärtlichen über das Schalkhafte bis zum wild Dreinfahrenden reicht. Dazu setzt sie nicht nur ihre sprechende Mimik, sondern den ganzen Körper ein, so dass man manchmal fast fürchtet, sie könnte vom Podest fallen. Dieser hundertprozentige Einsatz und die totale Identifikation mit dem Werk animieren das Orchester zu Höchstleistungen.
Im Scherzo gelingt der Gegensatz zwischen den derb und metronomisch gespielten Eckteilen und dem mit wienerischem Schmelz zelebrierten Trio blendend. Im langsamen Satz kombiniert die Dirigentin den Trauermarsch der Streichinstrumente (Bruder Jakob in Moll) lustvoll mit den parodistischen Einwürfen der Holzbläser. Man denkt dabei unweigerlich an das Bild Wie die Tiere den Jäger begraben von Moritz von Schwind, das Mahler vermutlich zur Komposition dieses Satzes angeregt hat. Im Finale, Stürmisch bewegt, erspart Mallwitz sich und den Musikern nichts. In einem wahren Titanenkampf – Mahler wollte die Symphonie ursprünglich als Der Titan bezeichnen – wird die Schlacht um Tod und Leben geschlagen und schliesslich gewonnen. Ein Sieg sowohl auf dem musikalischen Feld als auch für Joana Mallwitz, die vom Publikum mit einem Riesenapplaus gefeiert wird.