Dass Peter Eötvös im Frühjahr 2024 versterben würde, konnten die Verantwortlichen der Salzburger Festspiele natürlich nicht wissen. Die Neuinszenierung der Oper Drei Schwestern in diesem Sommer stellt nun post mortem eine passende und überfällige Reverenz an den großen ungarischen Komponisten dar, zumal an den Festspielen bisher noch keine der zahlreichen Opern Eötvös‘ gespielt worden ist.

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Cameron Shahbazi (Mascha), Aryeh Nussbaum Cohen (Olga), Dennis Orellana (Irina)
© SF | Monika Rittershaus

Das von Claus H. Henneberg und Eötvös in russischer Sprache verfasste Libretto fußt auf dem gleichnamigen Theaterstück von Anton Tschechow. Die drei Schwestern Olga, Mascha und Irina verbringen ihre Tage in einem trostlosen Provinzstädtchen, wohin es sie wegen der beruflichen Versetzung ihres Vaters verschlagen hat. Während das Leben in der Gegenwart stillsteht, träumen die Schwestern von ihrer Jugend in Moskau und sehnen sich dorthin zurück. „Nach Moskau“ wird zur Chiffre für die Hoffnung nach einem besseren Leben.

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Dennis Orellana (Irina) und Aleksander Teliga (Anfisa)
© SF | Monika Rittershaus

Im Unterschied zur linearen Erzählstruktur der Vorlage gliedert Eötvös die Handlung in drei Sequenzen, die dreimal dieselbe Geschichte formulieren, aber jedes Mal aus einer anderen Perspektive: jener Irinas, Maschas und Andrejs, des Bruders der drei Schwestern. Der Komponist richtet den Fokus auf das Gefühlsleben dieser drei Figuren und zeigt jede von ihnen im Spannungsfeld einer Dreiecksbeziehung. Und er schafft mit seinem zweigeteilten Orchester zusätzlich eine akustische Dimension, die die Gefühle und Leiden der Handlungsträger widerspiegelt und deutet.

Aryeh Nussbaum Cohen (Olga), Dennis Orellana (Irina), Cameron Shahbazi (Mascha) © SF | Monika Rittershaus
Aryeh Nussbaum Cohen (Olga), Dennis Orellana (Irina), Cameron Shahbazi (Mascha)
© SF | Monika Rittershaus

Die Pointe der vokalen Besetzung liegt darin, dass Eötvös für die drei Schwestern Counter-Stimmen verlangt, also Männer, die im Falsett singen. Bei der Uraufführung in Lyon 1998 war das heute allgegenwärtige Thema der Geschlechtsidentität noch weitgehend inexistent. Eötvös setzt die Travestie, angeregt durch das japanische Kabuki-Theater, als ein Mittel der Verfremdung ein, um das Allgemeinmenschliche seiner Figuren zu betonen.

In Salzburg kennzeichnet Emma Ryott die Schwestern optisch klar als Frauen: sie tragen Roben, Büstenhalter und Stiefelchen, sind zudem kräftig geschminkt. Irina wird von Dennis Orellana, dem 24 Jahre alten Countersopran aus Honduras, als junge, täuschend weiblich aussehende Figur mit schlanker Stimme umgesetzt. Cameron Shahbazi, der iranisch-kanadischer Countertenor mit androgyner Ausstrahlung, gibt Mascha mit sinnlicher Stimme als empfindsames Wesen. Und Olga erscheint in der burschikosen Darstellung des amerikanischen Countertenors Aryeh Nussbaum Cohen als leicht ironisch wirkendes Mannsweib.

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Jörg Schneider (Doktor), Dennis Orellana (Irina), Aryeh Nussbaum Cohen (Olga)
© SF | Monika Rittershaus

Der Regisseur Evgeny Titov hat zusammen mit seinem Bühnenbildner Rufus Didwiszus eine Szenerie entworfen, die zum Gemäuer der Felsenreitschule hervorragend passt. Tschechows Provinzstädtchen weicht hier einer Felslandschaft, die aussieht, als wäre sie von Bomben getroffen worden. Über die 40 Meter breite Bühne führt eine zerstörte Eisenbahnlinie, deren Schienen-Teilstücke in alle Richtungen ragen. Immer wieder gibt es Schreckensmomente, in denen die Schienen, wie von einem unsichtbaren Brandstifter angezündet, lichterloh brennen. In dieser bedrohlichen Kriegslandschaft spielen sich die Szenen der Figuren ab, die zwischen Resignation und Hoffnung schwanken.

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Drei Schwestern
© SF | Monika Rittershaus

Die lustlose Irina soll auf Geheiß Olgas heiraten, aber weder der Dandy Tusenbach (Mikołaj Trąbka) noch der gewalttätige Offizier Soljony (Anthony Robin Schneider) taugen dazu. Als tragische Figur ist Andrej (Jacques Imbrailo) gezeichnet, der seine Universitätskarriere aufgegeben hat und nun unter der Fuchtel seiner Ehefrau Natascha (Kangmin Justin Kim), ebenso ein Countertenor, leidet. Die komischen Elemente kommen auch in der Gestalt des dauerbetrunkenen Doktors Tschebutykin (Jörg Schneider) oder der Amme Anfisa (Aleksander Teliga), einem Bass mit XXL-Theaterbusen, trefflich zur Geltung. Die Hoffnung nicht aufgegeben hat Mascha, deren Liebe zum Offizier Werschinin (Ivan Ludlow) durch dessen Abreise allerdings unrealistisch wird.

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Drei Schwestern
© SF | Monika Rittershaus

Ganz ohne Hoffnungsschimmer will der Regisseur das Publikum dann doch nicht entlassen: Die von Anfang an auf der Bühne präsente alte Frau, wohl die Mutter der vier Geschwister, erhebt sich am Schluss aus ihrem Sterbebett, schreitet zur Geburtstagstorte von Töchterchen Irina, nascht mit dem Finger ein wenig davon und strahlt dabei wie ein Maienkäfer. Derweilen malt Irina an der Felswand, die die Bahntrasse blockiert, mit schwarzer Farbe einen großen Bogen: Hier könnte vielleicht ein Durchstich gemacht werden, damit die Bahn, wenn die Gleise repariert sind, dereinst doch noch nach Moskau fahren könnte.

Einen entscheidenden Anteil am Erfolg des Premierenabends hat das erweiterte Klangforum Wien unter der Leitung von Maxime Pascal und seines Assistenten Alphonse Cemin. Das im Orchestergraben sichtbare Solistenensemble fungiert als Echokammer des vokalen Geschehens auf der Bühne. Und zwar so, dass jeder Figur eines oder mehrere Instrumente zugeordnet sind. So wird etwa die melancholische Irina durch Oboe und Englischhorn, die keifende Natascha durch Sopransaxophon und der schwärmerische Tusenbach durch zwei Hörner begleitet. Zum Ensemble tritt ein normal besetztes Sinfonieorchester, das, für die Zuhörer unsichtbar, in den Felsarkaden hinter der Bühne spielt. Das Background-Orchester dient der atmosphärischen Charakterisierung der Szenen und ermöglicht überdies raffinierte stereophone Wirkungen.

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Aryeh Nussbaum Cohen (Olga), Cameron Shahbazi (Mascha), Dennis Orellana (Irina)
© SF | Monika Rittershaus

Dass Drei Schwestern mittlerweile zu einer Repertoire-Oper geworden ist, liegt nicht zuletzt daran, dass Eötvös‘ Klangsprache, obwohl streng konstruiert, doch ausgesprochen sinnlich wirkt und in der Bandbreite ihrer Tonfälle auch ein Publikum zu erfassen vermag, das nicht primär an avantgardistischer Musik interessiert ist. Und wenn das Ganze dann noch, wie bei dieser Produktion, auf einem so hohen künstlerischen Niveau präsentiert wird, erst recht!

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