Glück zu finden, ist fast unmöglich in Tschaikowskis Eugen Onegin. Glücksträume haben sie alle, verwirklichen können sie diese kaum, jedenfalls nicht so, wie sie es sich wünschen. Die Landbesitzerin Larina drückt es so aus: „Ich gewöhnte mich und war zufrieden”. Den Mann ihrer Träume bekam sie nicht. Ihre zwei jugendlichen Töchter Olga und Tatjana haben auch ihre eigenen Vorstellungen vom Liebesglück, wobei Olga sich in Lenski eines Bräutigams sicher zu sein glaubt. Er liebt sie schwärmerisch und himmelt sie an, sobald sie sich nur begegnen.

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Christina Niessen (Filippyevna) und Barbara Dobrzanska (Larina)
© Felix Grünschloß

Die eher schüchterne Tatjana sucht ihr Glück vorerst in Büchern. Doch als ihr Eugen Onegin begegnet, verliebt sie sich Hals über Kopf in den weltläufig erscheinenden Mann. Noch in der Nacht nach der ersten Begegnung schreibt sie ihm einen glühenden Liebesbrief. Aber Onegin weist sie zurück, sie habe Flausen im Kopf und solle sich beherrschen. Sogar als gottgewollt erklärt es Tatjanas Kinderfrau, die alte Filipjewna, dass sie als Dreizehnjährige von einer Heiratsvermittlerin an einen Mann verkuppelt wurde. Emanzipation ist in diesem alten Russland keine Kategorie, schicksalhafte Verstrickung bestimmt das Leben dieser Frauen. Und die Traumata werden von Generation zu Generation weitergegeben.

Sehr genau haben die Regisseurin Olivia Fuchs und die Bühnenbildnerin Nicola Turner am Badischen Staatstheater Karlsruhe dieses Libretto gelesen und erhellend herausgearbeitet, wie Glückshoffnungen sich in großes Unglück verwandeln, weil die Rollenmuster der Frauen sich fatal fortsetzen. Symbolisch eindrucksvoll versinnbildlicht in einem Wald aus geflochtenen Seilen, der im Hintergrund das Einheitsbühnenbild prägt. Und an diesen Seilen wird weiter geflochten, sich in ihnen verheddert oder an ihnen festgehalten.

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Pauliina Linnosaari (Tatjana)
© Felix Grünschloß

Auch bei den Männern ist es nicht viel anders, obwohl sie Wahlmöglichkeiten hätten. Wenn sich die Freundschaft zwischen Lenski und Onegin aus nichtigem Anlass zu einem tödlichen Konflikt entwickelt, können beide nicht über den gesellschaftlichen Schatten springen: Viermal Nein zur Versöhnung werfen sie sich gleichlautend an den Kopf – und Lenski stirbt im Duell.

Nur der alte Fürst Gremin ist glücklich. In Tatjana hat er eine junge Frau gefunden, die er abgöttisch liebt. Doch auch sie hat sich, nach ihrem geplatzten Beziehnungstraum mit Onegin, wieder nur in ihr Schicksal gefügt. Zufriedenheit ja, aber Leidenschaft wohl kaum. Denn als Onegin nun in umgekehrter Rolle sie übergriffig bedrängt, mit ihm zu gehen, wehrt sie ihn ab. Sichtlich nicht ohne Entsagungsschmerz, aber doch entschieden.

Tomohiro Takada (Onegin) und Pauliina Linnosaari (Tatjana) © Felix Grünschloß
Tomohiro Takada (Onegin) und Pauliina Linnosaari (Tatjana)
© Felix Grünschloß

In psychologisch genauer Charakterzeichnung richtet die Regisseurin ihr Augenmerk auf die Personen. Und es reichen mitunter kleine Gesten, um einer Figur deutlich Charakter zu geben. Dabei erscheint die Ausstattung auf den ersten Blick konventionell. Wir sehen Kostüme aus der Handlungszeit der Oper und opulente Arragements vor allem des großartig singenden Chores für die Feste und Bälle, die den gesellschaftlichen Rahmen der Handlung bilden. So besticht die Inszenierung durch eine wunderbare Verbindung von geradezu klassischer Ausstattung mit einer modernen Sichtweise auf die Konstellationen der Handlung.

Die Sängerinnen und Sänger folgen konsequent diesem Konzept. Karlsruhe kann mit einer Ausnahme sogar mit ausschließlich hauseigener Besetzung punkten. Den Onegin gibt Tomohiro Takada rollendeckend als einen Opernhelden eigentlich ohne Eigenschaften. Hinter seinem dandyhaften Auftreten zu Beginn ist kaum der Mann zu erkennen, in den sich ein junges Mädchen spontan verlieben könnte. Aber in Extremsituationen versagt seine Impulskontrolle, wie nach dem Duell oder ganz am Schluss, wenn Tatjana ihn abweist. Da zeigt er einfach nur kopflose Verzweiflung. Vokal bleibt Takada weitgehend indifferent, hält sich aber in der Lautstärke zu wenig zurück. Mehr Charakter gewinnt Jenish Ysmanov als Lenski mit schönem lyrischem Timbre und großer Ausdrucksintensität. Seine Arie über die verlorenen Träume der Jugend wird in ihrem Ausdruck von Trauer und Schmerz zu einem der Höhepunkte des Abends.

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Pauliina Linnosaari (Tatjana), Florence Losseau (Olga) und Tomohiro Takada (Onegin)
© Felix Grünschloß

Grandios aber ist Pauliina Linnosaari als Tatjana. Wie sie die fordernde Briefszene meistert, ist hinreißend, wobei sie von Johannes Willig am Pult kräftig unterstützt wird. So entsteht ein überaus subtiles musikalisches Seelenportrait im Auf und Ab des Gefühlswirrwarrs der Figur; eher parlierend in der Selbstreflexion, aber in einem herrlichen Fluss beim Formulieren des Brieftextes bis hin zum Durchbruch mutiger Entschlusskraft. Der anschließend einkomponierte Sonnenaufgang setzt diesem fast einzigen hellen Augenblick der Oper das Glanzlicht auf.

Lebensfroh, aufgeschlossen und temperamentvoll erscheint Olga, die von Florence Losseau mit jugendlich frischer Stimme höchst sympathisch gesungen wird. Und mit Barbara Dobrzanska steht als Larina eine Sopranistin auf der Karlsruhe Bühne, die hier noch nie enttäuscht hat. Gleiches gilt für Konstantin Gorny, der mit profundem Bass altmeisterlich dem Fürsten Gremin Gestalt gibt. Dass er im Rollstuhl auf die Bühne kommt, unterstreicht überzeugend den großen Altersunterschied zwischen ihm und seiner jungen Ehefrau. Eleazar Rodriguez glänzt mit dem lobhudelnden Couplet des französischen Partygasts Triquet als aufgeblasener Geck.

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Tomohiro Takada (Onegin), Konstantin Gorny (Fürst Gremin) und Pauliina Linnosaari (Tatjana)
© Felix Grünschloß

Johannes Willig leitet das Orchester außerordentlich subtil, trifft den emotionalen Gehalt der Musik mit großer Empathie, schafft immer wieder große Steigerungen, die er gleichermaßen schlüssig in Ruhephasen zurückführt. Die Staatskapelle findet stets die richtige Farbe, wunderbar stechen immer wieder markant die Einzelstimmen heraus. Eine Orchesterleistung von großer und schöner Klangintensität.

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