Suchte man nach einem schlagenden Beispiel, um Sigmund Freuds Theorie der Sublimierung zu veranschaulichen, fände man es in Jacques Offenbachs Oper Les Contes d’Hoffmann. Freud versteht unter Sublimierung die Modifikation der sexuellen Triebenergie in künstlerisch-schöpferische Tätigkeit. Genau darum geht es in Offenbachs Oper, deren Titelheld der deutsche Dichter Ernst Theodor Amadeus Hoffmann ist. Das Libretto zeichnet ihn als einen Dichter in einer existenziellen Lebenskrise, der seine gescheiterten Liebesbeziehungen im Alkohol zu ertränken versucht, der aber durch seine Muse zu neuer Schaffenskraft zurückfindet. Literatur statt Liebe, so lautet das Rezept.

Die Neuproduktion von Les Contes d‘Hoffmann an den Salzburger Festspielen ist ein künstlerisches Ereignis, das man sich nicht entgehen lassen sollte. Unter der inspirierenden Leitung von Marc Minkowski musizieren die Wiener Philharmoniker auf höchstem Niveau. Der Sängercast mit Benjamin Bernheim, Kathryn Lewek und Kate Lindsey bietet musikalisch-szenische Rollenporträts vom Feinsten. Und das Frauenteam mit der Regisseurin Mariame Clément, der Bühnen- und Kostümbildnerin Julia Hansen, der Lichtdesignerin Paule Constable und der Choreographin Gail Skrela sorgt für eine stringente und originelle Lesart aus weiblicher Perspektive.
Die Frage, wie man die Rahmenhandlung, also die Realität des Dichters, mit den drei Binnenakten, seinen Erzählungen, in Verbindung bringt, ist für jeden Regisseur eine Knacknuss. Clément löst sie so, indem sie die Binnenakte als Filmproduktionen darstellt. Der „Erzähler“ Hoffmann wird zum Regisseur, der seine Erinnerungen an Olympia, Antonia und Giulietta selber verfilmt. Dabei spaltet sich seine Rolle in Regisseur einerseits und unglücklichen Liebhaber andererseits auf.
Am deutlichsten zeigt Clément diese Dissoziation im Antonia-Akt. Die Bühne ist hier als Filmstudio eingerichtet. Auf der linken Seite ist eine Stube mit Konzertflügel für Antonias Gesangskunst aufgebaut, auf der rechten Seite ein großbürgerlicher Treppenaufgang mit Gemälden ihrer Mutter, die sie vor dieser Kunst warnt. Dazwischen stehen Gerüste, Kameras und Beleuchtungskörper herum, die von einer geschäftigen Filmequipe bedient werden. Hoffmann hantiert an der Kamera, gibt Anweisungen, korrigiert und verwirft. Und sogar der Bösewicht Doktor Miracle ist in die Filmsphäre eingebunden, indem er als reicher Produzent erscheint.
Wenn Hoffmann als Regisseur arbeitet, füllt Antonia diese Leerstelle aus, indem sie sich an den Pianisten (eine Statistenrolle) heranmacht. Schon im Olympia-Akt singt Olympia ihre halsbrecherischen Koloraturen nicht zu Hoffmann, sondern zu einem Statisten, der als schräger Lover aufgemacht ist. Die Frauenrollen stellen also nicht nur Projektionen Hoffmanns dar, sondern führen ein Eigenleben. Olympia erscheint nicht wie üblich als Puppe, sondern als selbstbewusste Frau, die Hoffmann zum Schluss des Akts ohrfeigt und ihrem Vater Coppélius den Stinkefinger zeigt. Mit solchen Verfremdungen und Umdeutungen entfernt sich Clément deutlich von herkömmlichen Inszenierungen, was konservative Hoffmann-Fans bedauern mögen.
Der in der Schweiz aufgewachsene und am Opernhaus Zürich großgewordene Franzose Benjamin Bernheim gibt die Titelrolle anders als man sie kennt. Er erscheint nicht als das große romantische Genie, sondern als ganz normaler Mann von heute, der mit seinen Frauen- und Alkoholproblemen nicht zurechtkommt. Ganz ohne Verkleidung agiert er auf der Bühne und spielt gewissermaßen sich selber. Mit seiner lyrischen, natürlich klingenden Tenorstimme bewältigt er seine Rolle ohne Anstrengung, ohne Attitüde.
Die amerikanische Sopranistin Kathryn Lewek dagegen erscheint sowohl optisch wie akustisch als außerordentliche Verwandlungskünstlerin. Wie von Offenbach gefordert, singt sie in Personalunion alle vier großen Frauenrollen selber. (Bei der Salzburger Hoffmann-Inszenierung von 2003 waren diese noch von vier verschiedenen Sängerinnen realisiert worden.) Damit verdeutlicht sie, psychologisch durchaus nachvollziehbar, dass die Stella der Rahmenhandlung für Hoffmann mit den drei Geliebten seiner „Erzählungen“ identisch ist. Dass eine Sängerin die mechanischen Koloraturen der Olympia, die menschliche Wärme der Antonia und die Durchtriebenheit der Giulietta gleichermassen überzeugend darstellen kann, ist sensationell.
Eine Vierfachrolle ist auch die des Bösewichts und Nebenbuhlers von Hoffmann. Der Bassbariton Christian Van Horn spielt Lindorf & Co. durchaus abwechslungsreich, allein das Diabolische fehlt ihm ein bisschen. Dass Giulietta alias Stella sich letztendlich von ihm einwickeln lässt, kann man nicht ganz nachvollziehen. Schließlich ist auch die Dienergestalt eine Mehrfachrolle; Marc Mauillon gewinnt ihr, sogar im vierten Akt als Hund, immer wieder neue Facetten ab.
Nachhaltige Eindrücke hinterlässt die Mezzosopranistin Kate Lindsey als Muse beziehungsweise als Hoffmanns Freund Niklausse. Mit ihrer warmen, sinnlichen Stimme ist sie für diese wichtige Figur geradezu prädestiniert. Das Changieren zwischen weiblicher und (verkleideter) männlicher Identität gelingt ihr ausgezeichnet. Und in der Barcarolle „Belle nuit, ô nuit d’amour“ schafft sie gar die Nähe zu Giulietta, die eigentlich ihre Kontrahentin ist.
Die Wiener Philharmoniker zu loben, hieße Eulen nach Athen zu tragen. Wenn das Orchester dann noch unter der Stabführung des Charismatikers Minkowski spielt, kann nichts mehr schief gehen. Das französische Repertoire liegt dem Franzosen sowieso, da klingt alles sehr authentisch, durchhörbar, poetisch, nicht „deutsch“ überladen. Im Großen Festspielhaus ist der Orchestergraben ja nicht tief, man sieht das Orchester und hört alles, beispielsweise die stereophonen Wirkungen, die sich durch die Platzierung der Hörner ganz links sowie der Trompeten und Posaunen ganz rechts ergeben. Der Gesang auf der Bühne wird dennoch nie zugedeckt.
Besonders eindrücklich realisiert Minkowski die stilistische Eigenart von Les Contes d’Hoffmann, die in der Kontrastierung von heiterer Operette und großer Oper besteht. In den musikalisch erhebenden Schlussversen der Muse und des Wiener Staatsopernchors lösen sich die Gegensätze dann in Minne auf: „On est grand par l’amour et plus grand par les pleurs.“ Die Liebe ist geopfert, die durch Tränen erkaufte Kunst hat gesiegt.