Das ist mal ein Coup im neuen Lohengrin in Karlsruhe. Nach dem zweiten Appell des Heerrufers gibt es einen kurzen Moment banger Erwartung – dann erhebt sich im Saal ein junger Mann in der dritten Reihe und steigt zur Bühne hinauf: Ein Nobody will Elsas Retter sein! Das wirkt zuerst befremdlich, doch bald wird klar, der Regiekniff hat Methode. Er öffnet Wagners romantischer Oper eine neue Dimension. Dieser Mann ohne Namen ist kein Schwanenritter, der aus mystischem Nebel kommt, sondern jemand aus der Realität. Fortan muss man sich von hergebrachten Lohengrin-Bildern verabschieden. Vielmehr öffnet die Inszenierung Fenster in neue Perspektiven auf diese Oper, die aber allesamt vom Text gedeckt sind. Den hat das Regieteam genau gelesen und schaut mit scharfsichtigem Blick in zwei Richtungen: auf die Opernhandlung selbst und auf deren Rezeption.

An vielen Stellen wird im Lohengrin vom Deutschen Reich geredet, vom Krieg geraunt und „Heil” geschrien. Anstoß erregten solche Stellen schon immer, hier nun werden sie einmal kritisch beleuchtet. Da Wagner seinen Lohengrin zur Vormärz-Zeit komponiert und gedichtet hat, waren diese Worte anders gemeint, als wir sie heute (mit Befremden) hören. Auf fruchtbaren Boden aber fielen sie, als anlässlich der Olympischen Spiele in Berlin 1936 die Oper in Bayreuth auf Hitlers eigene Kosten gespielt wurde: Lohengrin als die „Verkörperung des völkischen Geistes” hieß es. Eine Dekontaminierung war also fällig, ähnlich wie es in Bayreuth 2008 mit Parsifal (Herheim) und mit den Meistersingern (Kosky) 2017 geschah.
Schleichend rutscht Brabant hier ins Totalitäre ab. Sehr klug gehen Manuel Schmitt (Regie), Julius Theodor Semmelmann (Bühne) und Carola Volles (Kostüme) dabei vor. Nichts wird hier direkt zur NS-Kulisse, die Bilder sind NS-konnotiert, aber doch nur Anmutungen, die allerdings im Laufe der Handlung immer deutlicher werden. Es sind die Massenszenen, in denen das Hineingleiten in eine formierte Gesellschaft gezeigt wird. Im ersten Finale der Jubel, wenn Lohengrin mit Brustpanzer, Horn und Schwert zum Recken ausstaffiert wird, im zweiten Akt, wo der geächtete Telramund geprügelt und kahl geschoren wird und seine Mannen mit Schildern um den Hals („Ich wollte wissen – Ich habe gezweifelt”) den Boden scheuern müssen.
Die Edelknaben und -mädchen sind aus dem Fundus deutscher Wagnerkostüme mit Flügelhelm und Zopfperücke ausstaffiert. Und das Bühnenbild mutiert allmählich zur Architektur von Albert Speer. Im dritten Akt marschieren alle im Stechschritt und heben den Arm zu etwas Ähnlichen wie dem deutschen Gruß. Alles beklemmend genug, doch abgemildert mit einer Portion Ironie. Vor allem der Brautchor – der macht Werbung für's Kinderkriegen (Mutterkreuz!), denn er wird von Hebammen gesungen.
Auch die eigentliche Handlung erfährt in dieser Produktion eine Deutung, die in unsere Zeit passt. Die Figuren sind weniger schwarz-weiß gezeichnet als sonst. Differenziert sind die beiden Protagonisten gezeigt. Lohengrin zuerst sozusagen als freiwilliger Helfer, der sicher vom Angebot Elsas (Ehe und Reich) angelockt, sich aus dem Publikum meldet – er lässt sich eher überrascht den Pomp um ihn gefallen, doch zunehmend wird ihm mulmig in seiner Rolle. Am Schluss bei der Gralserzählung sucht er um Verständnis zu werben, dass er sich lieber doch verzieht und steigt entschlossen zurück ins Publikum. Mirko Roschkowski singt die Rolle mit wunderschön heller, aber nicht sehr großer Stimme, die nicht forcieren muss und im Lyrischen sehr anrühren kann.
Elsa macht eine erstaunliche Entwicklung durch. Zu Beginn scheint sie die Tragweite der Anklage Telramunds gar nicht zu begreifen. Zigarette rauchend schlendert sie vor den König. Ziemlich abwesend träumt sie von der baldigen Ankunft ihres Märchenritters. In der Brautgemach-Szene dann tritt sie – aus sich heraus, nicht nur auf Ortruds Druck – Lohengrin selbstbewusst entgegen. Seinen Namen fordert sie, um mit ihm auf Augenhöhe zu sein. Da wirkt er sogar ein bisschen arrogant in seiner sturen Weigerung: Sie müsse schon ein Opfer bringen, schließlich sei er aus einer besseren Welt zu ihr gekommen. Pauliina Linnosaari aus dem Karlsruher Ensemble stellt Elsa schlüssig dar. Etwas zu viel Vibrato macht ihre Stimme aber flackrich, worunter die vokale Linie leidet. Überzeugen kann sie dagegen an eher dramatischen Stellen.
Profiliert ist auch das Paar der Widersacher gezeichnet. Telramund (Kihun Yoon im Eifer mit teils überschlagender Stimme) scheint schwach und daher aggressiv, Dorothea Spilger bleibt cool und zynisch, ihr Mezzo ist stark und energisch. Sie ist das eigentliche Machtzentrum des Bösen in dieser Gesellschaft. Und als es am Schluss mit dem Nazispuk zu Ende ist, schreitet sie erhobenen Hauptes im Federkleid als schwarzer Schwan von der Bühne – mit ihrem Schmuckkasten, der wie die Büchse der Pandora wirkt.
Solide singen Konstantin Gorny als König und Tomohiro Takada als Heerrufer. Aber was ist mit dem Schwan? Den gibt es auch, doch nicht als Federvieh, sondern es ist Gottfried mit Dornen an den Armen. Er kommt mehrfach auf die Bühne und leidet fürchterlich, bis er sich von seinen scheußlichen Fesseln befreien kann. Vergessen wir auch nicht den Chor, der prachtvoll singt wie immer in Karlsruhe.
Und aus dem Graben kommen zauberhafte Klänge. GMD Georg Fritzsch erschafft im Vorspiel eine makellose Linie von ausgemachter Schönheit. Im Dramatischen hat der Klang viel Energie, doch im Pathetischen – vielleicht mit Absicht – einen Schuss zu viel.

