Gustav Mahlers Sechste ist wohl die gedanklich tiefgründigste und klanglich herausforderndste unter seinen Symphonien. Das Publikum fremdelt oft mit dem Werk und mitunter arbeiten sich Dirigent und Orchester schwer daran ab. Nicht so aber in der Berliner Philharmonie zur Eröffnung des diesjährigen Musikfests. Dem finnischen Dirigenten Klaus Mäkelä gelang mit dem Concertgebouworkest in ihrer Klarheit der Aussage und der faszinierenden Klanggestalt eine atemberaubende Interpretation.

Klaus Mäkelä dirigiert das Concertgebouworkest Amsterdam
© Fabian Schellhorn | Berliner Festspiele

Das Programm des Abends sah zu Beginn ein Werk der finnischen Komponistin Kaija Saariaho vor, das groß besetzte Orchesterwerk Orion, ein Triptychon filigraner Sphärenmusik. Den ersten Satz dominiert eine motorische Kreisbewegung sinnlicher Klänge in changierenden Farben. Die der Minimal Music ähnliche repetitive Motivik kulminiert nach einem markanten Trompetensignal in einem aufwühlenden Crescendo, das vielleicht den Titel Memento mori erklärt. Im zweiten Satz, Winter Sky, erstarren die Klänge förmlich zu Eis. Flirrendes Geigenflageolett, die klirrende Piccoloflöte und scharfe Oboentöne erzeugen eindrucksvoll den Eindruck kosmischer Erstarrung. Den dritten Satz Hunter bestimmt dagegen heftige Bewegung.

Bereits in diesem Werk entfaltete sich der orchestrale Glanz des Spiels der Amsterdamer. Seine hohe Kunst der präzisen Rhythmik und des instrumentalen Farbenreichtums wie in den Impressionen Saaharios stellte das Concertgebouworkest nach der Pause dann ganz in den Dienst der spannungsgeladenen Symphonie Mahlers. 

Mäkelä eilt bereits ein phänomenaler Ruf voraus, der die Erwartungen auf dieses Konzert in die Höhe trieb. Mit 26 Jahren ist er bereits Leiter zweier europäischer Hauptstadtorchester (Oslo und Paris) und gerade zum designierten Chefdirigenten des Concertgebouworkest ab 2027 ausgerufen worden. Trotzdem, Mäkelä trat auf's Podium, als müsste er gar nichts beweisen: gelassen, mit knappem, aber klarem Schlag, fast entspannt, aber die Musikerinnen und Musiker stets fest im Blick. So lenkte er gestisch und mimisch durch die Klüfte von Mahlers ungeheurem Tondrama – kein Pultdiktator, sondern ein Inspirator. Auf dieses Spitzenorchester konnte er sich so sehr verlassen, dass er sich stellenweise vollkommen zurücknehmen konnte. Und das Ergebnis war fulminant. Mahlers Symphonie wurde unter Mäkeläs Leitung zur Offenbarung.

Mäkelä reizte die Klangmöglichkeiten aus, überreizte sie aber nie. Im ersten Satz schärfte er die Konturen des Allegro energico an, ließ aber den markigen Marschrhythmus nicht so übermächtig werden, damit noch eine Steigerung des bedrohlichen Ausdrucks im letzten Satz möglich blieb. So baute der Dirigent klug weiträumige Spannungsbögen. Die einzelnen Episoden innerhalb der Sätze waren durch hochdifferenzierte Ausdrucks- und Klangwechsel klar von einander getrennt. Subtil ausgestaltete Übergänge machten die Architektur der komplexen Satzstrukturen erkennbar. 

Das Andante wiegte sich in weichem Legato der Streicher. Wunderschöne Dialoge der Holzbläser, eine elegische Melodie des Englischhorns traten markant heraus, die Celesta verstärkte zusammen mit den Herdenglocken den Eindruck von Weltabgescheidenheit. Jedoch nur einen kurzen Moment, bevor wuchtig das Scherzo in diese (scheinbare) Idylle einbrach. Hier wechselten sich sämtliche Mahlerschen Eulenspiegeleien ab. Das ironische Altväterisch war nur eine davon. Grelle, groteske Farben, schräge Tanzrhythmen, gespenstische Klangverfremdungen, scharfe Kontraste auf engstem Raum – ein Panoptikum des musikalischen Humors. Die Musikerinnen und Musiker nutzten die Möglichkeiten ihrer Instrumente mit lustvollem Engagement. 

Der letzte Satz brachte die Konflikte dieser Symphonie zum Ausbruch: den Kampf um Selbstbehauptung gegen etwas undefinierbar Mächtiges. Die Heftigkeit der gegensätzlichen Stimmungslagen schärfte Mäkelä dramatisch zu. Der Hammer führte eine erste Niederlage herbei und noch erschütternder der zweite Fall des Hammers, nach der nur noch Kraft für ein kurzes Aufbäumen blieb, bis die tiefen Bläser ein unheimliches Ende verkündeten und die Energie des Klangs buchstäblich zusammenfiel.

Die Aufführungsgeschichte Mahlers Symphonien reicht über ganz große Namen wie Bernhard Haitink oder Riccardo Chailly bis zu Willem Mengelberg zurück. Auch Mahler dirigierte in Amsterdam oft seine eigene Werke. Es scheint, als würde Klaus Mäkelä diese große Tradition nahtlos weiter schreiben.

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