Das Zürcher Kammerorchester wird in der Schweiz gerne mit dem Kammerorchester Basel verglichen. Während dieses mit Giovanni Antonini über einen Principal Guest Conductor verfügt und darüber hinaus auch mit anderen Gastdirigenten auftritt, musizieren die Zürcher ohne Dirigenten. Music Director Daniel Hope, ein Geiger von Weltformat, leitet die Konzerte seines Kammerorchesters vom ersten Pult aus oder präsentiert sich als Solist, wobei er in diesem Falle die Leitung seinem Konzertmeister Willi Zimmermann überlässt. Einen taktstockschlagenden Dirigenten gibt es beim ZKO nicht. Und im Unterschied zum Kammerorchester Basel hat sich das Zürcher Kammerorchester die historische Aufführungspraxis nicht demonstrativ auf die Fahne geschrieben.

Diese Konstellation wirkt sich unmittelbar auf die Programme aus. Exemplarisch war dies im Konzert in der Tonhalle Zürich zur Eröffnung der Saison 2024/25 zu erleben. Zwei Streichersymphonien des 12-jährigen Felix Mendelssohn standen zwei Gipfelwerken der abendländischen Musikgeschichte gegenüber, nämlich Beethovens Kreutzer-Sonate in einer Bearbeitung für Violine und Streichorchester und Richard Strauss‘ Metamorphosen für 23 Streichinstrumente.
Wer nur Mendelssohns fünf Symphonien für großes Orchester kennt, mag bei diesen Studienwerken des Wunderkindes die Nase rümpfen. Sie sind das Resultat des Kompositionsunterrichts, den Mendelssohn bei Carl Friedrich Zelter genossen hatte. Die Streichersymphonie Nr. 5 B-Dur ist noch epigonal nach dem Modell einer barocken Opersinfonia gestaltet, aber die Streichersymphonie Nr. 6 Es-Dur mit ihrem Menuett, das sogar einen Choral enthält, lässt immerhin den späteren Komponisten der Reformations-Symphonie erahnen. Hope und das ZKO unternahmen gar nicht erst den Versuch, die gediegenen Jugendwerke zu „großen“ romantischen Kompositionen aufzuplustern. Sondern sie führten sie als leichte, schwungvolle und bei allen kontrapunktischen Künsten heitere Stücke vor.
Was für ein Unterschied dann zu Beethovens Kreutzer-Sonate in der Bearbeitung von Richard Tognetti. Das original als Duo für Violine und Klavier komponierte Stück ist derart bearbeitet, dass der Violinpart grundsätzlich unverändert bleibt, während der Klavierpart auf das Streichorchester verteilt wird. Der charakteristische Kontrast zwischen dem Tasten- und dem Saiteninstrument geht dabei natürlich verloren. Dieser Verlust kann durch den Gegensatz zwischen Einzelnem und Kollektiv im Falle der Bearbeitung nicht wirklich wettgemacht werden. Aber Hope nutzte seine Chance, sich als brillanter Geigenvirtuose in Szene zu setzen, und die Musiker und Musikerinnen des ZKO waren ihm ein kongenialer Widerpart.
Brillanz und Schönklang stellten, auf Kosten der Radikalität, überhaupt die Maximen dieser Interpretation dar. Man bemerkte es beispielsweise im ersten Satz, wo das Hauptthema nicht die bei anderen Interpreten zu hörende Schonungslosigkeit aufwies und das zweite nicht in die Regionen des Fahlen vordrang. Im Variationssatz machten sich bei der halsbrecherisch in höchste Lagen aufsteigenden Variation der Solovioline einige intonatorische Trübungen bemerkbar. Im Schlusssatz dominierten dann auf allen Ebenen pure Virtuosität und effektvolle Gestaltung.
Schluss- und Höhepunkt des Konzerts bildeten die Metamorphosen für 23 Solostreicher von Richard Strauss. Das kurz vor Kriegsende komponierte Alterswerk wurde im Januar 1946 unter der Leitung von Paul Sacher in der Tonhalle Zürich uraufgeführt. Das Stück thematisiert die Erschütterung des Komponisten über die Zerstörung Deutschlands, über „den Untergang der Welt“, wie Daniel Hope bemerkte. Vor diesem Hintergrund vermochte die Wiedergabe des Zürcher Kammerorchesters, mit Hope am ersten Pult, zutiefst zu berühren. Die zahlreichen Melodien und Harmonien – jedes Instrument ist mit einer eigenen Stimme präsent – loteten die Musiker mit einer Expressivität aus, die bis an die Grenzen des Möglichen ging. Auf dem Kulminationspunkt vor der Reprise hatte man das Gefühl, als müssten gleich die Wände des Saales einstürzen. Der ersterbende Schluss mit dem Zitat des Hauptthemas aus dem Trauermarsch von Beethovens Eroica ließ einen dann weniger an den Untergang von Nazi-Deutschland als vielmehr an die aktuellen Kriege in Europa und in Nahost denken.
Mit einem solchen Trauerstück konnte das Publikum natürlich nicht entlassen werden. Als Zugabe gab es dann die Tarantella aus den Fünf Stücken für Streichquartett von Erwin Schulhoff und, als Reverenz für den anwesenden Flöten-Altmeister James Galway, ein altes irisches Volkslied, bei dem Hope vom Cellisten Nicola Mosca auf einer keltischen Harfe begleitet wurde.