Zwei große Werke der jeweiligen Epochen standen auf dem Konzertprogramm der Berliner Philharmoniker und Kirill Petrenko: Felix Mendelssohn Bartholdys Schottische Symphonie und die Zehnte Symphonie von Dmitri Schostakowitsch. Zwei besondere Werke interpretiert von einem besonderen Dirigenten und gespielt von einem besonderen Orchester – dies weckt nur allzu hohe Erwartungen. Wieder und wieder werden sie in der Philharmonie Berlin mehr als erfüllt.

Kirill Petrenko dirigiert die Berliner Philharmoniker © Stephan Rabold
Kirill Petrenko dirigiert die Berliner Philharmoniker
© Stephan Rabold

Felix Mendelssohn Bartholdy ließ sich als echter Hochromantiker auf seinen häufigen, oft längeren Reisen durch Europa zu seinen Werken inspirieren. Bei einer Reise nach Schottland im Juli 1829 entdeckte der Komponist zwischen Meeresküsten und Highlands eine verfallene Kapelle, bei der Efeu die Wände überzog und Gras an dem modrigen Gemäuer rankte. Eine musikalische Skizze hiervon wurde für den Beginn seiner Dritten Symphonie genutzt, welche heute gerne „Schottische“ genannt wird.

Grau klingend beginnt das Andante con moto mit Bratschen im Vordergrund und zurückhaltenden Bläsern und wirkt zunächst wie ein melancholisches Nebelloch. Ein wenig aufbrausender und gleichzeitig mit Phasen von ungemeiner Klangschönheit schließt sich das Allegro un poco agitato an. Gegeben der Entstehungsgeschichte könnte man fast meinen, einen visuellen Eindruck über Landschaften in Schottland mit nasskaltem Regen, leichtem Wind und düsterem Nebel zu bekommen beziehungsweise hören zu wollen.

Im Verlauf des ersten Satzes wirkte die Sicht von Petrenko auf das Werk jedoch weniger programmatisch und nicht als musikalische Nachzeichnung eines Miniaturzyklus über eine Reise nach Schottland. Es war viel mehr eine Widmung an den Klang und wie eine intellektuelle Auseinandersetzung mit der Partitur – eine transparente Gegenüberstellung verschiedener Stimmungen und Temperaturen sowie das Aufzeigen ihrer Zusammenhänge. 

Das Scherzo, Vivace non troppo, war eine besonders große Hörfreude einerseits durch das mutige, an Grenzen gehende, heitere Spiel der Bläser, allen voran von Soloklarinettist Wenzel Fuchs. Andererseits auch in dem Moment, in dem die von den Holzbläsern vorgetragene Melodie des Scherzos vom Orchester aufgenommen wird und in kraftvollem Blech erklingt und die Pauken dazwischen donnern. So verdrängen sie die gedeckte Stimmung des ersten Satzes und verleihen dem vorwärtsdrängenden Gestus des Scherzos eindringliche Wirkung.

Eine eindringliche Wirkung hatte die stalinistische (Kultur-)Politik auf das Leben und Schaffen von Dmitri Schostakowitsch. Eine Vielzahl an Büchern ist über die kontroverse Beziehung zwischen der politischen Führung der Sowjetunion und des Komponisten geschrieben worden. Erst das 1979 posthum veröffentliche Buch Die Memoiren des Dmitri Schostakowitsch vom Musikwissenschaftler Solomon Volkov veränderte schlagartig die vorherrschende Meinung vom „Propaganda-Komponisten Schostakowitsch“ zu der Sichtweise des sarkastischen, doppelbödigen, regimekritischen Komponisten. Die Deutung der Musik aus den Erlebnissen des Komponisten scheint bei Schostakowitsch nahezu unerlässlich.

Düster, schwarze Farben, ja fast vergiftet und dennoch zurückhaltend tastend beginnt das über 20 Minuten dauernde Moderato mit dem Thema der Celli und Kontrabässe. Eine einsame Klarinette kommt depressiv anmutend und doch suchend hinzu. Ein drittes nervöses, scheu und ängstlich klingendes Thema taucht durch die Flöte auf. Diese drei Themen des ersten Satz wurden von Petrenko immer wieder im Folgenden in verschiedenen Instrumenten und unterschiedlicher Darbietung herausgearbeitet. Dies steigerte sich zu peinigenden, vom Schlagwerk untermauerten, ja fast apokalyptischen Höhepunkten, bevor alles wieder in sich selbst zusammenfällt und in einem Raum völliger Leere schwebt.

Nach einer längeren Satzpause trat Petrenko mutig und entschlossen auf das Pult zwei Schritte nach vorne und legte mit einem Energiestrahl in Richtung des Orchesters los. Er peitschte das Orchester im Allegro von Anfang an nach vorne und vermittelt so plötzlich das Gefühl gehetzt und verfolgt zu werden. Der Sog war in Klang gewordener Schmerz. 

Schostakowitsch schafft es, eine extreme Tonsprache zu finden und aus den tiefsten Tiefen in die höchsten Höhen zu steigen, unterschiedliche Klang- und Ausdruckswelten aufeinander prallen zu lassen, musikalische und emotionale Gebrochenheit darzustellen und dabei auch in den Tempi an die Grenzen zu gehen. All diese unterschiedlichen Nuancen waren in der Musik an diesem Abend hörbar. So auch als im Finale die ein letztes Mal sich zu Wort meldenden Stalin-Klänge vertrieben werden vom insistierenden, glanzvoll und doch mit mitschwingendem Zynismus gesteigerten Schostakowitsch-Thema D-Es-C-H.

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