Bis zum 28. Lebensjahr war er Amateur, sang als Liebhaber ambitioniert in Chören, spielte solide auf der Geige, bis ihn Heinrich Schütz' Chormusik zu tieferem Nachdenken über historische Aspekte musikalischen Ausdrucks anregte. Die Begegnung mit Nikolaus Harnoncourts Interpretation von Bachs h-Moll-Messe stärkte in ihm die Überzeugung, dass dies der Weg zu modernem, historisch informiertem Musikspiel sei.
Sir Roger Norringtons Credo ist „Vibrato ist unhistorisch!“ Er setzt auf Transparenz, möglichst viele Details sollen aus der Musik herauszuhören sein. „Man hört von Dirigenten immer: mehr Klang! Diesen Klang allein möchte ich nicht haben, sondern Klangrede, Geste, Gespräch – und das geht viel leichter ohne Vibrato und dicke Texturen”, beschrieb Norrington in einem BR-Interview seine Intention. Auch andere Instrumente wie die Klarinette spielten ja ohne Vibrato, eben klangrein. Der „Stuttgart Sound“, den er mit dem Radio-Sinfonieorchester dort entwickelte, wurde zu seinem interpretatorischen Markenzeichen. Er hätte auch „Salzburg Sound” heißen können, denn zur gleichen Zeit leitete er als Chef hier die Camerata Salzburg.
1934 wurde Norrington, eine Woche nach Elgars Tod, geboren, heuer feierte er seinen 85. Geburtstag! Wie viele seiner Generation ist er sendungsbewusst, ja missionarisch in seinem Credo, aber auch sichtlich fasziniert, welche Ausstrahlung klangbewusste Musiker wecken können. Es sind die Geschichten hinter der Musik, die ihn interessieren: „Bei manchen Symphonien ist es, als ob ich einen Film dirigiere, ich sehe die Bilder, wie auf Postkarten.“ Nach zwingenden Aufführungen von Wagner und Schönberg im vergangenen Jahr kam Norrington 2019 mit seinen geliebten Klassikern Mozart und Haydn zur Camerata ins Mozarteum, zurück zu Freunden, mit denen man auch scherzen kann und sich ohne akribische Armbewegungen nur durch den „Augenblick“ versteht.
Mit einem einnehmenden Lächeln betrat er das Podium, Handkuss für die Konzertmeisterin Natalie Chee, Platz auf seinem Bürodrehstuhl, dessen Fähigkeit zu wippen Sir Roger im Folgenden weidlich in seine dirigentische Gestik einbaute. Doch zuvor, ans Publikum gewandt, ein paar launige persönliche Erläuterungen zu Mozarts Ballettmusik aus der Oper Idomeneo. Sie friste eigentlich ein ungeliebtes Dasein am Ende einer langen Oper, wird dort oft auch gekürzt oder gestrichen. (Nicht allerdings heuer auf der anderen Seite der Salzach, wo Teodor Currentzis – historisch aufmerksamer Dirigent – den Idomeneo lustvoll mit kompletter Ballettmusik abschloss.) Und dann folgte das Erlebnis einer frischen, froh bewegten und herrlich ausgearbeiteten Ballettsuite, die für Versöhnung und friedlichen Neubeginn nach Idomeneos Abdanken stand und deren strahlende Laune sich wie selbstverständlich im Publikum ausbreitete.
In seiner Ballettmusik zu Apollon musagète wird auch Igor Strawinsky zum Klassiker. Hier gab es keine dissonanten Härten, keine grellen Bläsereinwürfe; die Ballettmusik von Apollon, dem Führer der Musen, atmete mehr den Duft eines Pergolesi (wie in seiner Pulcinella-Musik) oder auch Rameau. Nach einem Prolog, der die Geburt des Apollon schildert, kommt es zu einer Reihe von allegorischen Tänzen im hergebrachten Stil des klassischen Balletts (Pas d’action etc.). Die Musen (Calliope, Polyhymnia und Terpsichore, Musen der Dichtkunst, des Theaters sowie der Musik) führen Apollon ihre Künste vor. Norrington und seine Camerata erzeugten im kammermusikalisch besetzten Streichorchester-Werk die weit ausholende Melodik eines hellen, transparenten Streicherklangs, der ein fein abgestuftes Bild von leuchtender Reinheit entstehen ließ und tänzerische Eleganz aus nuancierter Dynamik bezog. Feine solistische Beiträge kamen von Natalie Chee und Fabio Fausone am Cello.
Wie schon im Mozart-Ballett standen auch in Haydns Symphonie Nr. 104 D-Dur die Bläsersolisten im Halbkreis um die Streicher, perfekt aufeinander hörend, den Blick der Mitspieler suchend: Harmonie hieß bei der Camerata Salzburg nicht nur Schönklang, sondern gemeinsam atmen und fühlen. In ihrer melodischen Frische ist die Symphonie Mozart zugewandt, steht aber in den leidenschaftlichen Durchführungen auch Beethoven nicht fern. Schon die zwischen Aufbegehren und Ergebung schwankende ausgedehnte Adagio-Einleitung konnte das bezeugen. Sir Roger war hier in seinem Element, ließ agogisch völlig frei das Allegro „sich ereignen“, in seiner ganz spezifischen Art von Zurückhaltung und Spielwitz Charme und Lebendigkeit von Haydns Spätwerk subtil und liebevoll verschmelzen. Norringtons federleichtes wie geistvolles Dirigat, das „con spiritu“ zu erhöhter Temperatur von Camerata-Musikern und Hörern geführt hatte, erlaubte auch, dass eine Proms-Atmosphäre entstand, in der sich der Dirigent fragend zum Publikum drehte und wie selbstverständlich in feinem Lächeln Szenenbeifall heischte.
Im langsamen Satz, dessen Hauptthema oft bedeutungsschwer aufklingt, nahm Norrington die Vortragsbezeichnung Andante ernst, schob in seinem Dirigat gar ein „con brio“ hinterher. Gerade in der dramatischen Erschütterung nach g-Moll brach die düstere Leidenschaft agogisch im Accelerando aus, fand Auflösung im beruhigenden Schritt. Kräftig auch das Menuetto, das geradezu querköpfig mit Beethoven-Anklang daherkam, im Trio dann zartes liebliches Idyll verbreitete. Zur Feuerwerksmusik gar schien das Allegro spiritoso zu mutieren, mit seinem Dudelsack-Effekt in liegenden Bässen, nachdenklichen Geigeneinwürfen, Paukengewitter und wirkungsvoll befreiendem Frohsinn des D-Dur-Schlusses. Und all das ohne Vibrato, zumindest fast!