„Stabat mater dolorosa“: die aus dem 14. Jahrhundert stammende Dichtung skizziert den Schmerz der Mutter Gottes über den verlorenen Sohn. „Christi Mutter stand mit Schmerzen / bei dem Kreuz und weint von Herzen, / als ihr lieber Sohn da hing ...” So beginnt die deutsche Übersetzung dieses Stabat Mater, dessen marianische Klage, von der Kirche zunächst als zu weltlich abgelehnt, dann schnell in der volkstümlichen Beliebtheit stieg und, neben Missa, Requiem und Te Deum, zum vierten andachtsvollen, religiösen Liturgietext wurde. Von Palestrina und Pergolesi bis Pärt und Penderecki reicht die Liste der Komponisten, die vom Stabat Mater sich inspirieren ließen.

In der Konzertreihe Paradisi Gloria des Münchner Rundfunkorchesters, die seit langem Musik des 20. Jahrhunderts für den Kirchenraum ins Bewusstsein rücken will, hatte der Chefdirigent Ivan Repušić ebendieses Stabat Mater ins Zentrum des Abends gestellt. Die Männer-Schola des Chores des Bayerischen Rundfunks, unter Leitung von Denis Comtet, der den Chor auch einstudiert hatte, eröffnete mit den Strophen des gregorianischen Chorals von Stabat Mater den Abend: sehr raumwirksam wechselten Tenöre, auf der Orgelempore postiert, und Baritone im Altarraum mit der Strophenrezitation. Und der kräftige, andachtsvolle Gesang ließ die Gedanken durchaus vom klangüppig modernen Kirchenraum in die Anmutung der zum Himmel strebenden Pfeiler einer gotischen Kathedrale wandern.
Einen weiteren Fokus hatte Repušić bei der Programmauswahl auf Werke baltischer und polnischer Komponisten gelegt: in Musica Dolorosa hat der Lette Pēteris Vasks ein trauervolles Dolorosa für Streicher anlässlich des Todes seiner Schwester geschrieben, das mit lang gehaltenen Basstönen und absteigenden Glissandi die Ewigkeit des Todes ausdrückt. Zum Pizzicato der tiefen Streicher schwangen sich die Violinen in gleißende Höhe, schmerzerfüllt und doch wie eine Verheißung, die der Solocellist als Melodie einer glaubensstarken Annahme des Schicksals musizierte.
In Vorwegnahme der Passionszeit stand auch La Sindone, mit der Arvo Pärt 2005 auf das Turiner Grabtuch blickt, auf dem man das Bild des Gekreuzigten erkennen mag. Kreuzigung und Grablegung erklangen wiederum meditativ in den Streichern; das Wunder der Auferstehung gewann Gewissheit in heller Ausstrahlung von Schlagwerk und konzertierender Trompete.
Witold Lutosławskis Lacrimosa, „unter Tränen“ melodisch intensiv und eindringlich für Sopran, Chor und Orchester, erregte mit großem Crescendo schnell im Mitleiden neben der Gottesmutter unter dem Kreuz; engelsgleich schwebte die Stimme der australischen Sopranistin Siobhan Stagg über dem Orchestertutti. Da spürte man die Nähe polnischer Musik zu den Nachbarn aus dem Baltikum; wie schade, dass Lutosławski sein mit dem Lacrimosa begonnenes Requiem nicht vollendete.
In einer zwischenzeitlichen Rezitation stellten die Schauspielerin Laura Maire und die Moderatorin Constanze Fennel eine nachdenkliche moderne Dichtung An mein Kind (1983, von Else Lasker-Schüler) neben die lateinische Fassung des Stabat Mater (die an diesem Abend damit dreifach zu hören war; eine wortgetreue deutsche Übertragung fehlte leider auch im Textblatt).
Karol Szymanowskis Stabat Mater ist ein Werk, welches, einmal erlebt, für immer im Kopf hängen bleibt. Es besitzt eine atemberaubende Einfachheit der Linie, mit magischer Mischung aus perfekter Vertonung und leidenschaftlichem Einfühlungsvermögen in menschliches Leid. Leider sang man es in München nicht in original polnischer Sprache, was an Stelle des mönchischen Lateins eher die volkstümlichen Wurzeln hätte aufzeigen können. Die Einwürfe des Baritons Ljubomir Puškarić und des Männerchors klangen da sehr dicht und glaubensstark, markierten massiv die Unabwendbarkeit des Schicksals. Archaisch, mit wiegend warmtönigem Mezzo Annika Schlicht im „Eia mater“ des dritten Abschnitts. Atemberaubend danach der perfekt gestaltende Chor a capella, darüber ergreifend meditativ das Solo von Siobhan Stagg, die auch im ausklingenden „Paradisi Gloria“ mit ihrem ebenso zarten wie überhöhend wirkenden musikalischen Ausdruck den wachsenden Wunsch einer Betenden ausdrückte, durch tief empfundene Anteilnahme an Mariae Leid die Seligkeit des Paradieses zu erlangen.