Mit zwei Bachkantaten hatte Sir John Eliot Gardiner letzten Advent die Einsetzung seiner neuen Formationen, The Constellation Choir and Orchestra, gefeiert sowie damit seinen eigenen Weg der Rückkehr zu Tourneen gelegt. Beim nächsten Projekt mit heißgeliebtem, lebenslang verehrtem Komponisten standen gleich sieben Kantaten an. Und zwar an dessen einstiger Wirkungsstätte, in Leipzig innerhalb des jährlichen Kantatenzyklusreigens beim legendären Bachfest, bei dem – so viel sei vorweggenommen – Gardiner als Bach-Institution, gern gesehener Gast und ehemaliger Bach-Archiv-Präsident mit ausgiebiger Begeisterung bedacht wurde. Auf zwei Tage an Nikolai- und Thomaskirche verteilt, erklangen drei Kantaten zu Jubilate (BWV103, 12, 146) und vier Kantaten für den 16. Sonntag nach Trinitatis (BWV8, 161, 27, 95) im Rahmen ausgelobten Mottos: Transformation.

Sir John Eliot Gardiner dirigiert The Constellation Orchestra and Choir in der Thomaskirche © Gert Mothes
Sir John Eliot Gardiner dirigiert The Constellation Orchestra and Choir in der Thomaskirche
© Gert Mothes

Bei jenen Kantaten bedeutete dies den essenziell theologisch-musikalischen Perspektivenwechsel im Sinne des Übergangs vom Dies- ins Jenseits, von dringlicher Last zu Hoffnung, Freude und sehnlich erwarteter Erlösung, doch auch teilweise das In-Erinnerung-Rufen einzelner Sätze hinsichtlich Bachs späterer Wiederverwendung an anderer Stelle. Außerdem traf das Motto gleichsam direkt auf Dirigent – dazu hier am Ende mehr – und Ensembles gemünzt zu, bilden 90% der teils Ex- und weiter aktiven Mitglieder der Monteverdi-Gruppen, Gardiners vorheriges Weltklasse-Team, sowohl den neuen Chor als auch das Orchester.

Dazu kamen diesmal noch die zwei Vokalsolisten, die Gardiner ursprünglich für das angerissene Dezember-Programm, damals mit dem Monteverdi Choir und den English Baroque Soloists verabredet, eingeplant hatte: Namentlich Altus Alexander Chance und Bariton Florian Störtz. Neben erneut – aufgrund vorheriger und nun wieder in aller „glöcklich” erhellender Fein-, deklamatorischer Klar- sowie hochlagig leuchtender, stilistischer Reinheit und technischer Leichtigkeit bestätigter Leistung allzu verständlich – eingesetzter Marie Luise Werneburg als Sopransolistin reihte sich nur Thomas Hobbs als Tenorsolist neu ein. Er besitzt jedoch die größte Erfahrung, indem er schon fast alle Bachkantaten entweder mit Philippe Herreweghe oder bei der Nederlandse Bachvereniging gesungen hat.

Dabei machte ausgerechnet ihm, um die einzige Eintrübung nicht unter die Kirchenbank fallen zu lassen, manch Enge in dynamisch forcierterer Höhe mit einhergehender Intonationsanfälligkeit etwas zu schaffen. Dass es ihm bei bedächtigerer, sterbensverlangender Ausdrucksformung abseits resolutem Behauptungsansporn viel besser ging, belegte seine Arie „Ach, schlage doch bald, selge Stunde“ in Christus, der ist mein Leben. Außerdem die pure Glückseligkeit des Duetts „Wie will ich mich freuen“ der Kantate Wir müssen durch viel Trübsal zusammen mit Störtz, der durchweg so eine klanglich-rhetorische Inbrunst und sinnliche Überzeugungskraft offenbarte, dass sich die übermittelte Vertrauenszusage geradewegs aufdrängte und robust ins Herz bohrte. Chance wiederum gelang mit seiner vorzüglichen vokalen Deutlichkeit, Wärme und Kultiviertheit, die Wandlung von verzehrender Ölung zum ewigen Seelenfrieden in tatsächlich zeitvergessende Sphären zu hieven.

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Sir John Eliot Gardiner dirigiert The Constellation Orchestra and Choir in der Nikolaikirche
© Gert Mothes

Mit der Transformationsgeschichte der Ensembles war und ist es nicht verwunderlich, dass The Constellation Choir and Orchestra als das Non-plus-Ultra theatralischen, textbestimmten und greifbaren Affekts in Erscheinung traten – bekanntermaßen auch in den Chorälen, die bar eines allgemeinen, eintönig behäbigen Reflexionsritus sind, dafür vielmehr mit schließendem Gehalt in ganzheitlicher Dramaeinheit eindrücklicher und prächtiger im Gedächtnis haften. Unverändert grandios, wie die Impulsivität und rhythmisch betonte Energie, der riesige, dynamische wie tempobezogene Bogen an intensiv ausgereizten Kontrasten in Ihr werdet weinen und heulen gleich den Grundstein der in Wort und Klang gegossenen, höchst anspruchsvollen Ansprache-Expertise setzte, die in den Jubilate-Kantaten über körperlich leidendes, empfindsames, dynamisch zelebriertes Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen bis zu Ermattung und ansteckend durchblutetem Überschwang in BWV146 reichte.

Oder die bezüglich der vier Post-Trinitatis-Kantaten von besänftigend-einfühlsam zu unerschrocken zuversichtlich und himmlisch erfüllt in Liebster Gott, wenn wird ich sterben und Komm, du süße Todesstunde führte. Regelrecht unter den Nägeln brannte die Frage Wer weiß, wie nahe mir mein Ende, während Gardiner dem „Sterben“ im Eingangschor von BWV95 eine anschaulich tabuhafte Furcht entlockte, um sofort im Forte „ist mein Gewinn“ entgegenzuhalten. Die jeweiligen Affekte der Auffahrensfreude unterstützte er mit klangerzielendem Effekt zudem optisch durch das Aufstehen der gesamten Geigen und Bratschen, zusätzlich zum Stand der Instrumentalsolisten um Anne Schumann und Davina Clarke (Violinen), Michael Niesemann und Benjamin Völkel (Oboen), Rachel Beckett (Travers- und Blockflöte) und Catharine Latham (Blockflöte) sowie Robert Vanryne (Clarine/Zugtrompete) und Anneke Scott (Zughorn).

Zuletzt zu Gardiners Transformation, die dadurch eine Bewährungspobe erfuhr, dass Scotts Zugröhre im zweiten Chorpart von BWV95 zunächst der Hitze erlegen war. Der Dirigent holte sie zur Wiederholung zur Emporenbrüstung – mehr Druck, aber angemessenere Abstimmung – und klopfte ihr während des jetzt gelungenen Einsatzes anerkennend auf die Schulter. Halleluja!

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