Braucht Musik eine Visualisierung? Dient es dem besseren Verständnis einer Komposition, wenn sie von einem Video begleitet wird? Oder lenkt die optische Komponente unnötigerweise von der akustischen ab? Diesen Fragen stellte sich Lucerne Festival Forward. Das jüngste Kind des renommierten Luzerner Musikfestivals, das vor zwei Jahren aus der Taufe gehoben wurde, findet jeweils im November an einem verlängerten Wochenende statt. Im Unterschied zum Sommerfestival mit seinem repräsentativen Charakter richtet Forward den Blick auf die zeitgenössische Musik, noch deutlicher: auf das Segment mit experimentellen, widerborstigen und querständigen Werken. Und Forward hat, wie auch das Sommerfestival, sein eigenes Orchester: Es ist das Lucerne Festival Contemporary Orchestra, das in den vier Konzerten mit unterschiedlich besetzten Formationen auftrat.

Passend zum Fokus auf Video und Film verlegte man das Eröffnungskonzert in das Filmtheater im Verkehrshaus der Schweiz. Gleich bei der ersten Darbietung, den Web Studies der französischen Komponistin Clara Maïda, stellten sich die eingangs formulierten Fragen mit aller Deutlichkeit. Auf der Bühne konzertierten vier Musiker auf Violine, Bratsche, Harfe und präpariertem Klavier miteinander. Sie kämpften aber auch gegen die mit ihrem eigenen Spiel ausgelöste Live-Elektronik an. Kampf des Menschen gegen die Technik sozusagen. Auf einer interaktiven Videoprojektion sah man dazu wachsende und vergehende Geraden, die sich zu unterschiedlich dichten Netzen zusammenfügten. Für das Publikum war jedoch der (sicherlich intendierte) Zusammenhang zwischen diesem Gewebe und dem musikalischen Formverlauf kaum nachvollziehbar.
Hauptstück des ersten Abends bildete An Index of Metals, die letzte Komposition des 2004 verstorbenen italienischen Komponisten Fausto Romitelli. Als „Video-Oper für Sopran, elektronisches Ensemble und multimediale Projektion” wird das Werk im Untertitel angekündigt. Mit Oper im herkömmlichen Sinn hat die Komposition allerdings nichts zu tun. Die ausdrucksstarke Stimme der äthiopischen Performerin Sofia Jernberg, deren gesungene Worte unverständlich blieben, trat vorwiegend als instrumentale Klangfarbe in Erscheinung. Das Video von Paolo Pachini und Leonardo Romoli spielt mit den Assoziationen, die sich aus dem Wort „Metall” ergeben. Auf drei parallel ablaufenden, aber nicht identischen Filmspuren waren organische Bewegungen zu sehen, die man als schmelzendes Metall, Tropfen oder sich bewegende Körperteile deuten konnte.
Romitellis polystilistische Musik stellt keine direkte Umsetzung des Videos dar. Aber das Verschmelzen, das man sieht, geschieht auch musikalisch. Die elf Instrumente des LFCO-Ensembles traten nicht primär in Einzelaktionen auf, sondern verbanden sich in langsam dahinfliessenden Klangbändern, verschmolzen mit den live-elektronischen Elementen. Durch die enge Verbindung zwischen den optischen und den akustischen Eindrücken wurde das Publikum in einen trance-ähnlichen Zustand versetzt, der von den Autoren durchaus beabsichtigt ist.
Beim zweiten Konzert, diesmal im Kultur- und Kongresszentrum Luzern, stellte sich die Frage nach dem Zusammenhang der benachbarten Künste anders. Den Ausgangspunkt beider vorgeführten Werke bildeten nämlich zwei Filme der Filmemacherin Corinna Belz und des Bildenden Künstlers Gerhard Richter. Richters Patterns für grosses Ensemble, Computer und Film von Marcus Schmickler ist 2016 für das Ensemble Musikfabrik Köln entstanden. Richter machte Fotos von Bildausschnitten eigener Werke, Belz stellte daraus einen Film her, der nicht mit der Kamera gedreht wurde, sondern aus Rechenoperationen entstand, und Schmickler komponierte schliesslich eine Musik, welche die optischen Strukturen des Films in akustische überführt.
Was bekam man als Hörer von diesen komplizierten Zusammenhängen mit? Grundsätzlich war man hoffnungslos überfordert, sie alle zu begreifen. Vereinfacht gesagt zeigt der Film abstrakte ornamentale Muster, die sich ständig teilen, spiegeln und wiederholen. Die anfängliche Betonung der Vertikalen verschiebt sich zusehends ins Horizontale. Gleichzeitig wird das Tempo der Prozesse vom fast Unmerklichen ins Rasende beschleunigt. Diesem Bilderfluss setzt Schmickler in seiner Musik einen Zeitfluss entgegen, der sich auf unterschiedlichen Ebenen abspielt. Diejenigen im Publikum, die sich weniger mit diesen strukturellen Herausforderungen abmühen wollten, sondern sich einfach vom einnehmenden Spiel des LFCO-Ensembles und den wirkungsmächtigen Bildverwandlungen auf der Leinwand in Beschlag nehmen liessen, hatten wohl den grössten Gewinn bei der Rezeption dieses Stücks.
Mit Moving Picture 946-3 Kyoto hat auch die britische Komponistin Rebecca Saunders Musik zu einem Film von Belz und Richter geschrieben. Auf der Leinwand sah man wiederum diese ständig sich verändernden Muster, die nun in ihrer Dreidimensionalität den Eindruck des Eintauchens in unendliche Räume erzeugten. Musikalisch ereignete sich dazu die One-Man-Show des Trompeters Marco Blaauw. Auf seinem eigens für ihn konstruierten Instrument konnte er die abenteuerlichsten Klänge und Geräusche produzieren. Durch rein akustische Amplifikation über Mikrophon und Lautsprecher verteilten sich diese im ganzen Saal und liessen eine Art Kathedralmusik erstehen, die hervorragend zum Film passte.