Der Musikwissenschaftler und Bachbiograph Christoph Wolff geht davon aus, das ungefähr zwei Fünftel der Bachschen sakralen Kantaten verloren gegangen sind. Von seinen weltlichen Kantaten sind noch mehr verschollen. Die meisten Menschen kennen und lieben Johann Sebastian Bach wegen seiner Choräle und gerade unter diesem Aspekt ist dies ein nicht zu unterschätzender großer Verlust. In den siebziger Jahren hatte Mauricio Kagel aus den fast 400 übrig gebliebenen Chorälen 53 ausgewählt und sie mit seinen eigenen kompositorischen Mitteln unter Beibehaltung der von Bach verwendeten Texte neu interpretiert, um sie so einem modernen aufgeschlossenen Publikum neu zugänglich zu machen.

Chorbuch ist eine 160-minütige Komposition, in der ein vierstimmiger Chor abwechselnd vom Klavier oder Harmonium begleitet wird. Die Choräle können ausdrücklich in beliebiger Kombination aufgeführt werden. Chorwerk Ruhr unter seinem Dirigenten Florian Helgath hatte aus Kagels Werk für diesen Abend im Amsterdamer Muziekgebouw eine Auswahl von elf Chorälen mitgebracht. Einige davon wurden genauso gesungen, wie sie von Bach komponiert wurden, andere von Kagel in einer Vielzahl von Stilen neu komponiert. Dazu kamen drei von Bachs eigenen Orgelbearbeitungen, die von Organist Lars Notto Birkeland kunstvoll verziert gespielt wurden. Kagel hatte sein Stück als „akustische Theologie” bezeichnet: einerseits sein Kommentar zu Bach und zugleich eine Erkundung seiner eigenen religiösen Überzeugungen.
Kagel nimmt Bachs Musik durchaus ernst, stellt aber im Chorbuch die mit ihr verbundenen Konventionen in Frage. In seiner Partitur hat er zahlreiche Besonderheiten notiert: Er fordert die Sängerinnen und Sänger zu mehrstimmigen Sprechgesang, Flüstern und Pfeifen auf, aber auch zum Schreien oder zum Singen in absurd tiefer Lage. An anderen Stellen wird der Einsatz von Megaphonen vorgeschrieben. Bei Kagel sind Mimik, Gestik und theatrale Aktionen eingeforderte Elemente jeder Aufführung. Seine Musik schwebt auf Clustern und Glissandi, und Überraschung und Humor liegen regelmäßig, oft auch gleichzeitig, auf der Lauer. So wird Es ist Genug von einer Altistin so überzeugend vorgetragen, dass sie einem fast leid tut. Und in Heut triumphieret Gottes Sohn, wird das „Halleluja..ja..ja” so gedehnt gesungen, dass vor allem das „Ja“ hervorsticht.
Bewundernswert an dieser Aufführung ist vor allem die Geschmeidigkeit, mit der Chorwerk Ruhr wie selbstverständlich zwischen der meditativen Gelassenheit Bachs und dem provozierende Musiktheater von Kagel wechselte. In Amsterdam überzeugen sie mit beidem auf engstem Raum – ein Kunststück der besonderen Art.
Im ersten Teil waren drei von Bachs Motetten programmiert. Chorwerk Ruhr war zu diesem Zweck in zwei quasi symmetrischen Hälften aufgestellt. Mit seinen Doppelchören und der Art der Choralbearbeitungen zeigt sich Bach hier als Adept der mitteldeutschen Tradition, in der er aufgewachsen war. Die Betonung der Oberstimmen und die weitgehend homophone Konzeption der ersten Teile sind kennzeichnend für diese Werke. Bachs frei imitierende Schreibweise wird im Anfangsteil von Komm, Jesu, komm mit seinem Doppelchor veranschaulicht. In Singet dem Herrn verwendet er die Form des Instrumentalkonzerts (schnell-langsam-schnell). Für die erste Motette des Abends Singet dem Herrn ein neues Lied wählte Helgath ein flottes energiegeladenes Tempo. Wunderbar obertonreich klang der Chor an dessen Ende mit dem letzten Wort, „Halleluja!”.
Als Zugabe gab es Brahms Komposition Geistliches Lied, Op.30. Chorwerk Ruhr verabschiedete sich dabei den Zirkel wieder zu Bach schließend mit rundem vollem Klang nach einem ereignisreich vielschichtigen Konzertabend mit viel Stoff zum Nachgenießen.