Herbert von Karajan soll sich in einem späten Interview eingestanden haben, im Alter etwas kürzer treten zu müssen. Werke wie die Achte Bruckners werde er wohl bald nicht mehr dirigieren können. Auch Sir Georg Solti soll derartige Bedenken formuliert haben. Beide waren um die 80 Jahre alt. Herbert Blomstedt scheint solche Bedenken nicht zu haben. Sein jüngstes Dirigat dieser monumentalen Symphonie in Bamberg, in der Fassung von 1887 (nach der Neuen Bruckner-Gesamtausgabe, herausgegeben von Paul Hawkshaw), war allerdings nicht allein eine Sensation, weil die Aufführung den Weg ins Guinness-Buch der Rekorde geschafft hat, sondern weil in ihr Maßstabsetzendes zu Gehör gekommen ist.

Blomstedt betont, stets bestens auf das Werk vorbereitet zu sein, das er gemeinsam mit einem Orchester musizieren möchte. Mit diesem Rezept gelingt es ihm, das gesamte Ensemble zusammenzuführen und über sich hinauswachsen zu lassen. Er verfügt über eine offenbar auch im biblischen Alter von knapp 97 Jahren nicht nachlassende Blickweite, die ihn genau wissen lässt, was er aus den das Werk tragenden Gestalten im Laufe der Aufführung zu machen gedenkt, um so dessen Geflecht offenzulegen.
Weniger mit seinen Händen, als durch seine Mimik modelliert, kam zu Beginn in den dunklen Tönen der tiefen Streicher das Hauptmotiv der Symphonie zu Gehör. Blomstedt akzentuierte in ihm die Vorschläge und die doppelten Punktierungen, so dass sie sich einprägen konnten. In der „Gesangsperiode“ legte er das Gewicht auf den hier ins Kantable gekleideten Bruckner-Rhythmus (zwei Viertel und drei triolischen Vierteln). Blomstedt, der sitzend dirigierend zum Mitglied der Bamberger Symphoniker auf Augenhöhe wurde, gelang es, das oft beschworene Paradox einer „flüssigen Architektur“ zu Gehör zu bringen.
Während in weniger begnadeten Aufführungen entweder nur alles fließt oder nur einzelne Abschnitte für sich als „versteinerte Musikbrocken“ liegen bleiben, gingen an diesem Abend auch lautstarke Höhepunkte und hauchzarte Pianissimo-Stellen (oder umgekehrt) stets organisch auseinander hervor, wobei es gelang, diese Spannung auch über Pausen hinweg zu halten: Nachdem der große Es-Dur-Block die Exposition beschlossen hat, stand die Zeit im Saal still, als über dem Tremolo erst das Horn, dann die Oboe eine von aller Chromatik gereinigte Variante des Hautgedankens in ein Nirgendwo versendeten. Die Durchführung diente der Verwandlung vom „flüssigen“ in den „gefrorenen“ Aggregatzustand, bis bei „Feierlich breit“ Hauptgedanke und Gesangsperiode nun jeweils in Augmentation zusammengewachsen waren. Trotz allem überwältigenden Nachdruck war der Klang auch hier ganz transparent und ausbalanciert.
Der um die Tragfähigkeit der beiden Bausteine wissende Blomstedt gestaltete den Beginn des Adagios, für mich so noch nie zuvor gehört, als deren weitere Transformation: Den Rhythmus der Gesangsperiode (Duolen–Triolen) versetzte er in ein deutlich artikuliertes Schweben in den tiefen Streichern und grundierte mit ihm den auf das Minimum des steigenden und fallenden Halbtons reduzierten doppelt punktierten Rhythmus des Hauptgedankens in den Violinen.
Und weil er diesen doppelt punktierten Rhythmus als Zentralmotiv der Symphonie entdeckt hat, ließ er auch im Hauptthema des Finalsatzes keine Reiter von außen in das Werk galoppieren, sondern brachte in ihm eine neuerliche Variante des Hauptmotivs zum Klingen. Am Ende dieses mäandernden Satzes holte Blomstedt dann zu einer großen Geste aus: Prophetisch-visionär ließ er das Hauptthema hervordonnern, um das „Ende der Geschichte“ einzuleiten, in dem die Essenzen der vier Themen aller vier Sätze wie als Apokatastasis“ der Wiederherstellung aller Dinge am Ende der Zeiten, zusammenklingen. Blomstedt entließ die Musik in die Ewigkeit, wobei er mit Bedacht in diesem Kontrapunkt dem Hauptgedanken das größte Gewicht in den Bässen gab. Nach dem letzten Ton hielt er die Hand hoch, so dass alles in Stille ausklingen durfte.