Egal wie oft man sie schon gesehen hat – packend und beeindruckend ist Calixto Bieitos Inszenierung von Georges Bizets Carmen jedes Mal aufs Neue. Frei von Kastagnetten-Kitsch und ohne Victim-Blaming der Sorte „die böse Femme fatale hat den armen Soldaten zum Mörder gemacht” erzählt der Regisseur die im Grunde sowieso immer brutale Handlung rund um toxische Männlichkeit, Beziehungsgewalt und Femizid als mitreißenden Thriller. Das reduzierte, düstere Bühnenbild mit effektvoll eingesetztem Licht und Nebel trägt seinen Teil zur gefühlten Unmittelbarkeit dieser Geschichte bei; und ihre stärksten Momente hat die Inszenierung ohnehin immer dann, wenn der Fokus auf der beinahe leeren Bühne ausschließlich auf den Protagonisten liegt. Vorausgesetzt natürlich, es stehen Sängerinnen und Sänger auf der Bühne, die es verstehen, eine Figur überzeugend mit Leben zu füllen – und das gelang an diesem dritten Abend der neuen Saison der Wiener Staatsoper ganz hervorragend.

Als Carmen bereits an vielen großen Häusern zu hören war Aigul Akhmetshina, die mit dieser Vorstellungsserie nun ihr Staatsoperndebüt gab – und was für eines! Denn ihre Stimme ist schlichtweg perfekt für diese Rolle; von mit Präzision gesetzten Spitzentönen über die gold-samtene Mittellage voll Substanz bis hinunter in kraftvolle Tiefen strömt ihr Mezzosopran bruchlos durch die Partie und schmiegt sich elegant wie eine Katze an Bizets Noten. Mal gurrt sie kokett, dann beschwört sie alleine mit der Stimme in strahlenden Farben die Faszination der Freiheit herauf und hat auch keine Angst davor, zugunsten der Dramatik vor allem im Finale vokal völlig aus sich herauszugehen. Und das alles, während sie sich darstellerisch mit vollem Einsatz in die Rolle wirft, dabei tanzt, verführt und die Unabhängigkeit zelebriert. Kurzum: besser geht es nicht!
Als eigentlich unauffälligen Soldaten, der aber erstens dringend sein Aggressionsproblem in den Griff bekommen müsste und zweitens als Muttersöhnchen sowieso die Definition von beziehungstechnischer Red Flag ist, legt Vittorio Grigolo den Don José an und bietet, wie bei ihm nicht anders zu erwarten, eine auf jeder Ebene leidenschaftliche Interpretation. Mal zart schmachtend und dann wieder dramatisch aufwallend setzt er seine Stimme ein, packt eine breite Palette an Farben in die Interpretation und zeichnet die zunehmende Eskalation des Charakters vokal (und auch darstellerisch!) nachvollziehbar. Ein paar ausgestreckte Arme zu viel und so manche Texthänger verzeiht man ihm da angesichts der Stimmschönheit an diesem Abend dann nur allzu gerne, denn in seinem Tenor voll Schmelz kann man einfach zu herrlich schwelgen.
Eine hinreißende Micaëla brachte Elsa Dreisig auf die Bühne der Staatsoper: Sie schaffte es nämlich, der Figur sowohl in der Darstellung als auch mit ihrer Stimme genau den richtigen Mix an zurückhaltender Schüchternheit und zielstrebiger Bestimmtheit zu verleihen. So fieberte man mit ihr etwa im Duett des ersten Akts gebannt mit und hätte ihr – wüsste man als Zuschauer nicht bereits von seiner Gewalttätigkeit – zu diesem Zeitpunkt beinahe ein Happy End mit Don José gewünscht; vor allem, da sich die Stimmen von Grigolo und Dreisig ideal verbanden und die beiden die verflossene Liebschaft, an der eigentlich nur noch Micaëla zu hängen scheint, äußerst nuanciert gestalteten. Dreisigs Sopran schimmerte dabei in der Grundierung silbrig glänzend und blühte in der Höhe farbenreich auf, blieb dabei auch immer satt im Klang, selbst in den fein gesponnenen Piani in ihrer großen Arie, die sie farbenreich in den Raum malte.
Nicht mehr ganz so mühelos und samtig wie noch vor einigen Jahren erklang Erwin Schrotts Stimme in der Auftrittsarie des Escamillo; ein wenig wirkte es, als bräuchte er erst einige Momente, um zu seiner (vokalen und darstellerischen) Präsenz zu finden. Als er sie dann aber gefunden hatte, lieferte er souverän den arroganten Stierkämpfer ab, wickelte Carmen gekonnt um den Finger und provozierte im dritten Akt beinahe schelmisch Don José.
Auch die zahlreichen kleinen Rollen – und hier seien auch explizit die Statisten erwähnt, ohne die diese Inszenierung gar nicht erst funktionieren würde! – waren ausgezeichnet besetzt; insbesondere Isabel Signoret als ebenmäßig und warm timbrierte Mercédès und Ilja Kazakov, der den unsympathischen Zuniga mit Schönklang ausstattete, stachen dabei positiv hervor. Neben dem bestens disponierten und mit viel Spielfreude agierenden Chor konnte auch der Kinderchor in seinen beiden Auftritten glänzen.
Das Orchester der Wiener Staatsoper zündete vom ersten Ton an ein energiegeladenes Feuerwerk und begeisterte einerseits mit glänzendem Gesamtklang und andererseits mit hervorragenden Einzelleistungen – etwa durch die Hörner im dritten Akt. Dirigent Pier Giorgio Morandi hielt dabei vom Pult aus die Tempi straff und den Klang farbenreich, sorgte für düsteren Fatalismus ebenso wie für auflodernde Leichenschaft, achtete dabei aber auch stets auf feine Abstimmung der Dynamik mit den Solisten auf der Bühne. Die hohe musikalische Betriebstemperatur an diesem Abend ließ in Kombination mit den sommerlichen Außentemperaturen zum Saisonstart definitiv eine große Portion Südspanien-Feeling an der Donau aufkommen.