In der nicht ausverkauften Isarphilharmonie stellten die Münchner Philharmoniker und ihr designierter Chefdirigent Lahav Shani eine markante, Individualität ausstrahlende Saisoneröffnung vor: nach der spätromantischen Neunten von Anton Bruckner am vergangenen Wochenende gehörten die Komponisten dieses Abends nun unterschiedlichen Strömungen zeitgenössischer Musik an. Beide Programme sind auch Teil des Reisegepäcks zum Lucerne Festival in diesen Tagen.

Vier wenig bekannte Komponisten aus fast 100 Jahren Musikgeschichte: vom 1897 als Paul Frankenburger in München geborenen Paul Ben-Haim bis zum 1988 in Israel auf die Welt gekommenen Michael Seltenreich. Dass ein Programm mit diesem Zuschnitt Herzenssache des neuen Chefdirigenten ist, konnte man aus der lebhaft engagierten Leitung durch Shani heraushören, in der äußerst konzentrierten Umsetzung und Vehemenz der Orchestermusiker*innen wiederfinden.
Hohe Anforderungen an Virtuosität stellten die ersten beiden Werke des Abends. Die koreanische Komponistin Unsuk Chin schreibt extrem klangfeine, oft kammermusikalisch ausgekleidete Musik, nutzt dabei ohne Hemmungen verschiedenste Stile. Beethovens enorme Kontraste von Vulkanausbrüchen bis hin zu extremer Gelassenheit haben sie besonders gereizt: in ihrem achtminütigen subito con forza (plötzlich mit geballter Kraft) streut sie Motive aus seinen Coriolan- und Leonoren-Ouvertüren, schließlich gar das Schicksalsmotiv seiner Fünften Symphonie ein, um daraus neue Klanggeflechte, flirrende Streicherschichten und Schlagwerk-Salven zu formen, in schnellem Übergang zwischen markantem Ausdruck und fluoreszierendem Schweben von Harmonien, die die Philharmoniker mit Shani detailgenau und durchaus amüsant inszenierten.
Obgleich Zeitgenosse und Kollege von Messiaen und Boulez, hielt Henri Dutilleux zu deren Stilen immer Abstand. Vielmehr verband der Franzose freie Tonalität mit impressionistischem Kolorit und eindringlicher Erzählkraft. Trotz dieser faszinierend eigentümlichen Mischung aus Verrätseltem und Verführerischem sind seine Werke in Deutschland nur selten zu hören. Umso willkommener war die Aufführung seines Violinkonzerts „L'arbre des songes”, in dem Dutilleux wie in der Verästelung eines großen Baumes die inneren Verflechtungen einer Traumwelt erkundet. Dem großen Geiger Isaac Stern hatte er das Konzert gewidmet; dessen Schüler Renaud Capuçon konnte in München nun die typische Dutilleux-Ästhetik in ihrem ganzen suggestiven Reiz entfalten.
Capuçon legt den Solopart in den lebhaften Ecksätzen recht extrovertiert, geradezu dramatisch an: nuancenreich und filigran gestaltete er den zentralen langsamen Satz, dessen ausgesprochen poetische Atmosphäre von einem innigen Dialog zwischen Geige und Oboe (prägnant Marie-Luise Modersohn) ausgezeichnet wurde. Federleicht, tänzerisch, dynamisch aufs Feinste aushorchend agierte Capuçon; beeindruckend auch bei der Rhythmik der Sätze, in denen Shani mit den Philharmonikern überzeugend gestalten und die mannigfach oszillierenden Farben der äußerst feinsinnigen Instrumentation meisterhaft präsent machen konnte.
Michael Seltenreichs The Prisoner’s Dilemma bezieht sich auf die Katastrophe des 7. Oktober 2023 in Israel und das, was darauf folgte. Für ihn wurde dieses Stück zum Ventil für seine Gefühle seit dem furchtbaren Massaker; musikalisch gibt es keinen Bezug auf den Konflikt im Nahen Osten. Lediglich die emotionale Zerrissenheit, die Seltenreich angesichts der aktuellen Situation empfindet, spiegelt sich in seiner Musik wider. Das Auftragswerk des Israel Philharmonic Orchestra, der Münchner Philharmoniker und des Lucerne Festival, finanziert von der Ernst von Siemens Musikstiftung, wurde von Shani in Haifa uraufgeführt und erlebte in München seine deutsche Premiere.
Charakteristisch sind sich wiederholende rhythmische Felder, fast im Sinne einer Minimal Music; melodische Abschnitte wechseln mit scharf konturierten Klangeruptionen, gut erkennbare Spannungsbögen wälzen sich in ruhigem 4/4-Puls wie Magmamassen zu Fortissimo-Höhepunkten. Einsprengsel disharmonischer Blechbläser-Rufe unterbrechen aufblühendes Figurenwerk der Holzbläser. Der offene Schlussakkord wird Sinnbild der Unsicherheit einer Hoffnung auf Frieden. Überraschend kantabel präsentierte sich so das jüngste Werk des Abends.
Obwohl Paul Ben-Haim, Sohn jüdischer Eltern, in seiner 1940 entstandenen Ersten Symphonie sich stilistisch zwischen Brahms, Mahler und Schmidt bewegt, hat sie sich aus dem Abseits auf Konzertplänen nicht befreien können. Auswendig und ohne Taktstock, in ausholend federndem Schwung von Armen und Hüften sowie mit detaillierter Zeichengebung musizierte Shani mit den enthusiastischen Philharmonikern ein hymnisches wie in melodischer Überzeugungskraft exzessiv süffiges Plädoyer für den Komponisten, der für das Musikleben des damaligen Palästina prägend war. Höhepunkt eines Programms, das auch Hörer überzeugen konnte, die sonst der zeitgenössischen und modernen Musik reserviert gegenüberstehen!