Mahlers Dritte ist wahrlich ein Koloss. Mit etwa eineinhalb Stunden Dauer ist sie seine längste Symphonie und sie spiegelt in ihrer Aussage nach Mahlers eigenen Worten „eine ganze Welt”. Tatsächlich hat Mahler mit ihrer monumentalen Anlage in zwei Abteilungen und sechs Sätzen sämtliche Traditionen der Gattung überschritten. In der Tonsprache umfasst sie weit entgegengesetzte Stimmungen, von grober Gewalt im ersten Satz über ein ziemliches Chaos im Scherzo bis hin zum verklärenden Finale. Uraufgeführt wurde sie in drei Etappen: zuerst nur der zweite Satz 1896. Und da urteilte ein Kritiker recht anerkennend über die „gefällige Form” und die „hübschen Farben”. Sicherlich, solches lässt sich heraushören, aber dieser Satz ist viel mehr: Es handelt sich um ein Menuett, dessen charmante Eleganz von den beiden grobschlächtigen Trios ziemlich bald konterkariert wird – die anfängliche Rokoko-Süße zerrinnt zu bitterer Ironie.

Elīna Garanča mit Robin Ticciati und den Münchner Philharmonikern
© Andrea Kremper

Vor allem diese „hübschen Farben” waren in der Interpretation der Münchner Philharmoniker unter Robin Ticciati im Festspielhaus Baden-Baden klanglich bestens ausgemalt, auch die formgerechte Eleganz des Menuetts kam uneingeschränkt zur Geltung. Technisch spielte das Orchester (abgesehen von wenigen Wacklern in der Intonation in mehreren Stimmen) auf höchstem Niveau. Im Ausdruck allerdings ließ sich Mahlers vertrackte Ironie, seine besondere Form des Humors, nur wenig erspüren. Dies schmälerte etwas den Eindruck vor allem dieses und auch des dritten Satzes, wo der Komponist basierend auf dem Wunderhornlied vom Kuckuck, der zu Tode gestürzt ist, eine wilde Hatz unter den Tieren des Waldes veranstaltet – von Mahler natürlich (wie der dritte Satz der Zweiten Symphonie auch) auf die menschliche Gesellschaft bezogen und alles andere als behaglich, was die Satzbezeichnung Comodo eigentlich vermuten lässt. 

Aus der Ferne klingt in diesen Scherzo-Trubel unvermittelt das Posthorn hinein, eine Episode von nostalgischer Schönheit, die von Sehnsucht nach einer anderen Welt und Zeit erzählt. Der Solist der Münchner Philharmoniker blies die langen Melodie-Bögen wunderschön phrasiert und artikuliert. Die Klangfarbe des (meist) verwendeten Flügelhorns allerdings kam einem echten Posthorn zwar nahe, hatte aber doch nicht dessen klangliche Wärme.

Ohne Einschränkung gelang der Beginn des vierten Satzes, den Ticciati herrlich langsam und doch gespannt anlegte und das Orchester in wundervollen Klangfarben regelrecht zelebrierte, im dreifachen Piano, aus der Tiefe der Streicher und Hörner, überhöht vom feinen Flageolett der Violinen, ebenso hochsensibel von den Holzbläsern und Posaunen. Da war erfüllt, was man sich unter Misterioso vorstellt. Beschwörend, zugleich ungemein ruhig sang Elīna Garanča die Verse Friedrich Nietzsches „O Mensch! Gib acht!”, die von tiefem Leid und ewiger Lust handeln. Die Aufführung war jetzt zu beeindruckender seelischer Tiefe gelangt. 

Gleich wieder wechselte die Stimmung zum naiven „Bimm bamm” des Knabenchors: hier der Tölzer Knabenchor „keck im Ausdruck” und ebenso homogen wie die Damen des Philharmonischen Chores München, die sich mit ihren Engelsgesang anschlossen. Mit hier passender größeren Emphase trat Garanča nochmals in der Rolle der reuigen Sünderin ins Geschehen ein. Doch die Frage, ob Erlösung gewährt wird, erhält nur die Antwort „Bimm”.

Kampf und Erlösung – dies sind die Themen der beiden Ecksätze, die an diesem Abend exzellent gelangen. Den ersten, für sich schon riesenhaften Satz strukturierte Ticciati überzeugend, ließ das collageartige Auf und Ab der Stimmungen zu einem spannungsvollen Ganzen werden. Immer wieder wurden die Aufschwünge zerstört, fiel der Klang in deutlich modellierten Glissandi regelrecht in sich zusammen. Mit überaus leisen Trommel- und Paukentremoli führten die Hörer in geheimnisvolle Sphären, der Marsch in der Mitte des Satzes war mit seinem schrillen Geklingel und dem Pauken- und Trompetengetöse („mit furchtbarer Gewalt” fordert Mahler hier) wieder der denkbar größte Kontrast. Bis am Schluss die ganzen Auseinandersetzungen der Themen und Motive in einem übertriebenen Triumphgeheul kulminierten.

Anders dagegen der Schluss des letzten Satzes, Langsam. Ruhevoll. Empfunden. Ganz als Kehrseite zum ersten Satz entstehen hier große Bögen, die Ticciati wundervoll herausarbeitete. Auch dieser Satz ist vor groben Einwürfen (meist der Hörner) nicht sicher, aber letztlich steuert er auf eine Apotheose hin – die Verklärung der Liebe, wie Mahler es verstand. Tief berührend endete an diesem Abend mit dem versöhnenden, langen D-Dur-Akkord diese grandiose Symphonie.

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