Das vom legendären Geiger Yehudi Menuhin gegründete Festival hat ein Doppelgesicht. Da gibt es zum einen die Symphoniekonzerte im Festival-Zelt Gstaad, zum andern die Kammermusikkonzerte in den schmucken Kirchen der umliegenden Dörfer. Seit kurzem dient auch die reformierte Kirche in Zweisimmen als Konzertort. Hier war am Eröffnungswochenende des Festivals der Pianist Francesco Piemontesi zu erleben, der in diesem Sommer die Rolle des «Artist in Residence» einnimmt. Der in Locarno in der Schweiz geborene Piemontesi studierte in Lugano und in Hannover und war unter anderem Schüler von Alfred Brendel. Der eben 40 Jahre alt gewordene Pianist konzertiert inzwischen an den musikalischen Hotspots in Europa und Nordamerika und tritt mit den angesagtesten Kammermusikpartnern und Orchestern auf.
In seinem Rezital beim Gstaad Menuhin Festival stellte Piemontesi zwei Giganten der Klavierliteratur einander gegenüber: das zweite Buch von Claude Debussys Préludes und Franz Schuberts Klaviersonate in B-Dur, D960. Die dazwischen gespielten Bearbeitungen von Bach-Chorälen wollten nicht recht dazu passen; der Einschub war wohl eine Konzession an einen Teilaspekt des Festivalmottos „Demut”, der die künstlerische Auseinandersetzung mit Bach in den Vordergrund rückt.
Eine umwerfende Interpretation gelang Piemontesi bei Debussys Préludes. Wie schon im ersten Buch gibt der Komponist auch im zweiten jedem der zwölf Stücke, zwar etwas verschämt jeweils am Schluss, einen poetischen Titel. Landschaften, Stimmungen, Fabelwesen und anderes werden da imaginiert. Zur Umsetzung dieser Bilder braucht es eine grosse Sensibilität und gleichzeitig eine Virtuosität, die sich nicht aufdrängt, sondern wie von selbst daherkommt. Die Kombination dieser beiden Eigenschaften ist genau das, was die Stärke dieses Pianisten ausmacht. Schon im ersten Stück, Brouillards, begeisterten die Zärtlichkeit des Anschlags und die Wirkungen, die der raffinierte Pedalgebrauch hervorriefen: Man vermeinte, durch Nebelschwaden hindurch eine verschwommene Landschaft zu erkennen. Spanisches Kolorit schien in La puerta del vino auf. Entrückte Klangfarben waren im Feenstück Les fées sont d’exquises danseuses zu hören. Bei der Mondschein-Nummer mit ihren drei Schichten aus Bass, Mittellage und Diskant gelang es dem Pianisten, diesen komplexen Verlauf mühelos darzustellen. Deftige Parodie und lustvolle Ironie brachten Général Lavine und Hommage à S. Pickwick. Und bei den abschliessenden Feux d’artifice brach dann Piemontesis Virtuosität ganz unverstellt durch.
Schuberts B-Dur-Sonate, komponiert in seinem Todesjahr 1828, ist, zusammen mit der Winterreise und der Neunten Symphonie, das Vermächtnis des Komponisten. Hat Schubert das Wesen des Liedes in der Neunten auf die symphonische Gestaltung angewendet, so überträgt er es in der Sonate auf die solistische Klaviermusik. Das Hauptthema des Kopfsatzes hört sich tatsächlich wie ein Lied ohne Worte an. Schönklang in Reinkultur, wäre da nur nicht am Schluss jeder Phrase das leise Donnerrollen im Bass. Genau in diesem Punkt setzte die Interpretation Piemontesis an. Er stellte die Heiterkeit und Dur-Seligkeit des Themas den getriebenen, ruhelosen und abgründigen Elementen des Satzes gegenüber. Im langsamen Satz, wo Schubert schon fast aus dem Jenseits „spricht”, gelang dem Pianisten durch feinste agogische Differenzierung und raffinierte dynamische Abstufung eine tiefgründige Interpretation. Dass die beiden letzten Sätze der Sonate in ihrem Gehalt nicht mehr an die ersten beiden herankommen, ist für jeden Pianisten ein Problem. Während Piemontesi das Scherzo einfach als heiteres Wiener Tanzerl vorstellte, deutete er das Rondo als ständigen Kampf zwischen gefälliger Konvention und Ausbruch. Die wiederhergestellte Heiterkeit des Schlusses mit seinem B-Dur-Rausch erschien da nicht als wirkliche Erlösung.
Als Artist in Residence wird Piemontesi noch drei weitere Male am Gstaad-Festival auftreten: im Duo mit der Cellistin Sol Gabetta, im Trio mit der Geigerin Francesca Dego und dem Cellisten Daniel Müller-Schott sowie als Solist in einem Konzert des Freiburger Barockorchesters. Man darf sich darauf freuen.
Die Hotelkosten von Thomas Schacher wurden vom Gstaad Menuhin Festival übernommen.