Die Nachwelt tat sich immer etwas schwer mit Mozarts letzter Oper. Der antike Stoff und das noch von der Ästhetik der Opera seria beeinflusste Libretto von La clemenza di Tito erreicht weder die psychologische Glaubwürdigkeit noch die dramatische Schlagkraft der drei Da-Ponte-Opern. Und ebenso wenig die Volkstümlichkeit der Zauberflöte. Die Milde des römischen Kaisers, der seinen Attentätern ganz uneigennützig vergibt, erscheint sonderbar, und Inszenierungen rätseln regelmäßig daran herum.

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Daniel Behle (Tito)
© SF | Marco Borrelli

In der neuesten Produktion der Salzburger Pfingstfestspiele hat Robert Carsen eine überzeugende Lösung gefunden. Titus ist hier kein Potentat, der vielleicht aus purer Sentimentalität Milde walten lässt, sondern ein moderner Herrscher, für den Moral in der Politik bestimmend ist. Gnade vor Recht walten zu lassen, ist für ihn nicht Schwäche, sondern Größe. Entsprechend stellt Daniel Behle ihn dar: nahbar, aber würdig – entschlossen und reflektiert.

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Cecilia Bartoli (Sesto) und Alexandra Marcellier (Vitellia)
© SF | Marco Borrelli

Carsen siedelt die Handlung in einer modernen Machtzentrale an: funktionale Büromöbel, eine Besucher-Galerie für das Publikum, große Monitore an der Wand, an den Seiten die italienische und die Europa-Flagge, Eintritt nur mit Codekarte. Allen Figuren hat die Regie psychologisch überzeugendes Profil gegeben. Selbst das Problem der Hosenrollen ist hier keines mehr. Warum sollen heute, in einer Zeit der Genderfluidität, Sesto und Annio nicht nur von Frauen gesungen werden, sondern auch welche verkörpern?

Vitellia, der Tochter des vergangenen Kaisers, die unbedingt den Thron zurückerobern will, ist es gleichgültig, wen sie für ihre Interessen instrumentalisiert. Sesto, ob Mann oder Frau, ist ihr ohnehin abgöttisch ergeben. Ihn kann sie mit berechnender Erotik manipulieren. Als unsympathische Figur legt Alexandra Marcellier ihre Rolle an und scheut vokal weder Kälte noch Schärfe. Mit starkem psychischem Druck drängt sie Sesto zum Anschlag auf Tito.

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Daniel Behle (Tito)
© SF | Marco Borrelli

In dieser Partie feiert nach ihrer langen Bühnenkarriere Cecilia Bartoli nun in Salzburg, wo sie die Pfingstfestspiele künstlerisch verantwortet, ihr Rollendebüt. Und erfreulich uneitel fügt sie sich in das im übrigen durchweg exzellente Ensemble ein. Aber ihre Bühnenpräsenz ist enorm. Darstellerisch fasziniert sie ebenso wie vokal. Die Gebrochenheit, den inneren Konflikt Sestos macht sie packend deutlich: zwischen Solidarität und Freundschaft zu Tito und der Liebe zu Vitellia wirkt sie schier zerrissen. Letztlich machtlos antwortet sie auf Vitellias Forderungen: „parto” – erfüllen werde ich deinen Plan, wenn du mich dafür liebst. Gehorsam und Trotz, Flehen und Empörung: Cecilia Bartoli bringt die ganze Gefühlsbreite in dieser Arie zum Ausdruck, und es scheint, als spiegele die obligate Klarinette ihre Seelennot, das Instrument, das Mozart besonders liebte und stets mit besonderer Emotionalität bedachte.

Cecilia Bartoli (Sesto) und Daniel Behle (Tito) © SF | Marco Borrelli
Cecilia Bartoli (Sesto) und Daniel Behle (Tito)
© SF | Marco Borrelli

In dieser Aufführung geht der Gestus des instrumentalen Klangs besonders schön konform mit der emotionalen Bewegung der Figuren und deren Gestik im Handeln. Ein eindrucksvolles Beispiel von Klangrede, dem sich Les Musiciens du Prince, das von Bartoli selbst gegründete Ensemble aus Monaco, verschrieben hat. Gianluca Capuano leitet es mit großer Sensibilität im Klang, ausgeprägt differenzierter Dynamik und subtilem Ausdruck.

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Anna Tetruashvili (Annio) und Mélissa Petit (Servilia)
© SF | Marco Borrelli

Schlüssig arbeitet die Inszenierung die dramaturgischen Gegensätze heraus. Der intriganten Figur der Vitellia stehen gleich zwei Figuren edler Gesinnung gegenüber: Sestos Freund Annio und dessen erhoffte Braut Servilia. Letztere stellt sich Titos Heiratswünschen entgegen. Mit ihrer jugendlichen Stimme ist Mélissa Petit in dieser Rolle die Vertreterin einer selbstbewussten modernen Frau. Tiefe Empathie mit Sesto vermag die Mezzosopranistin Anna Tetruashvili als Annio zum Ausdruck zu bringen. Beide junge Sängerinnen dürfen mit ihren herrlichen Stimmen voller Ausdruckstiefe als große Entdeckungen gelten.

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La clemenza di Tito
© SF | Marco Borrelli

Vitellias Plan, Tito zu beseitigen scheint aufzugehen: Am Ende des ersten Akts sehen wir in Video-Überblendung die von Sesto aufgestachelten Aufständischen das Kapitol erstürmen und in Brand setzen. Doch Tito fällt dem Anschlag nicht zum Opfer. Sesto wird als Anstifter dingfest gemacht. Und nun wird Titos Herrschermoral auf die Probe gestellt. Der Senat hat Sesto zum Tode verurteilt, doch die Freundschaft zu ihm lässt Tito beim Vollzug des Urteils zögern. Lange schaut er sich das Video des Anschlags an. Empörung und Wut überkommen ihn, dass der Freund ihn verraten hat. In einem großen Recitativo accompagnato und einer Arie kämpft Tito zwischen Pflicht und Neigung. Daniel Behle singt die Partie exzellent. Die Stimme sitzt perfekt und fließt auf dem Atem, die Koloraturen kommen wie gestochen, die Diktion ist klar, der Ausdruck ausgewogen zwischen lyrisch und dramatisch. Beim Gedanken, das Blut des Freundes opfern zu müssen, kommt die Einsicht. Er zerreißt das Urteil gegen den Freund.

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Daniel Behle (Tito) und Alexandra Marcellier (Vitellia)
© SF | Marco Borrelli

Zuvor hatte Publio zur Vollstreckung gemahnt. Diese Rolle, die oft als nebensächlich behandelt wird, erhält in dieser Inszenierung höheres Gewicht durch Ildebrando D'Arcangelo, den in weit größeren Rollen profilierten Bassbariton. In nur einer kurzen Arie verleiht er diesem Beamten starke Autorität. Seine wirkliche Macht zeigt sich am Schluss. Noch während das Volk Titos Milde bejubelt (herrlich klangvoll und wandlungsfähig der Chor Il Canto di Orfeo) planen er und Vitellia den Putsch: Tito und die Übrigen werden von den Wachen erschossen und Vitellia nimmt triumphierend auf dem Chefsessel Platz. Frappant erinnert sie mit ihren langen blonden Haaren dabei irgendwie an eine reale Politikerin im Italien von heute.

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