Marco Arturo Marellis Inszenierung der Sonnambula aus 2001 gehört zu den besten Regiearbeiten, welche an der Wiener Staatsoper zu sehen sind. In der hier besprochenen zweiten Aufführung der aktuellen Serie (der 52. insgesamt) zeigte sich einmal mehr, dass man sich daran noch lange nicht sattsehen wird, auch wenn diese aus einem einzigen Bühnenbild besteht.
Statt eines bäuerlichen Hintergrunds hat Marelli als Kulisse die festsaalartige Lobby eines von Thomas Manns Der Zauberberg inspirierten, hotelartigen Sanatoriums mit Blick auf die Berge gewählt, und mehr braucht es auch nicht, um mit perfekter Personenregie die Geschichte der amourösen Verwirrungen und Nöte rund um Bellinis Schlafwandlerin zu erzählen. Dabei sitzt Marelli auch ein wenig der Schalk im Nacken, wenn es rund um die arme Amina manchmal lustig wie bei Rossini zugeht. Die Eiseskälte, welche im zweiten Akt zwischen dem Liebespaar ausgebrochen ist, wird versinnbildlicht durch den Ausläufer einer Lawine, die sich ihren Weg durch die Glastür des Saales gebahnt hat, und diese winterliche Optik passt bestens zu dem kühlen Glitzern in Bellinis Traummusik, für welche aktuell eine herausragende Besetzung aufgeboten wird.
Juan Diego Flórez, welcher auch der gefeierte Elvino der Premiere dieser Inszenierung war, hat seither (naturgemäß) eine stimmliche und künstlerische Weiterentwicklung vollzogen. Er hat mehr an Kraft und Dramatik gewonnen, jedoch seine Markenzeichen, die sichere Höhe, die liebliche Kantilene und das Rossini-Timbre behalten. Bei seinen endlos gehaltenen, makellosen Spitzentönen beginnen auch strenge Kitiker/innen zu schwärmen und würden am liebsten drei Superlative in einen Satz packen. Objektiv betrachtet ist Flórez als Elvino derzeit konkurrenzlos und diese Inszenierung unterstützt ihn zusätzlich: Flórez ist am besten, wenn er weitgehend er selbst sein darf, und da liegen ihm der schicke Cut oder die Samtjacke (Kostüme: Dagmar Niefind) näher als ein rustikales Kostüm. Elvino ist zwar wankelmütig und eifersüchtig und stellt unerfüllbare Ansprüche an Amina (er glorifiziert sie zunächst, weil er in ihr seine kürzlich verstorbene Mutter sieht), doch schaffte es Flórez, dass man dieser Figur Sympathie oder zumindest Verständnis entgegenbrachte: Es ist ja auch heutzutage nicht unüblich, dass Männer Frauen als ihr Eigentum betrachten und sich Frauen um den Preis einer „guten Partie“ allerhand gefallen lassen.
In dieser Serie der Sonnambula gibt es außer Flórez ausschließlich Rollendebüts, und diese glückten fast alle bestens: Als Primadonna gab Daniela Fally eine weitere Vorstellung ihres großen Könnens und ihrer Musikalität. Zwar warf sie die Amina noch nicht ganz so leichtfüßig hin wie beispielsweise ihre Zerbinetta, doch ist man guter Dinge, dass sie die buchstäblich traumwandlerische Sicherheit, mit der sie ihre Partien singt (und in dieser Sonnambula auf einem in einer Schneewehe steckenden Klavier balanciert) auch mit Amina noch erreichen wird. Das ist jedoch Kritik auf allerhöchstem Niveau, denn es gelang ihr alles durchwegs bestens. Die a capella-Stellen gestaltete sie als intimes Kammerspiel mit höchster stimmlicher und darstellerischer Präsenz; ihr „Ah! Non credea mirarti…“ ging zu Herzen. Sie erfüllte auch die hohen schauspielerischen Ansprüche an die Rolle, stellte das Schlafwandeln, die Verwirrung und Verzweiflung glaubwürdig dar.
Aminas Möchtegern-Konkurrentin Lisa war Maria Nazarova. Darstellerisch war sie Fally ebenbürtig; als kleines, aber nicht unsympathisches Luder sorgte sie für so manchen Lacher und gab der Lisa mehr Sympathie, als diese Rolle gemeinhin verdient. Bei ihrer gesanglichen Darbietung war man sich aber nicht sicher, ob alles, was witzig schien, auch tatsächlich so beabsichtigt war. Luca Pisaroni überzeugte mit stimmlicher und darstellerischer Noblesse; sein Conte Rodolfo wirkte in der Beziehung zwischen Elvina und Amina wie ein Paartherapeut, hatte dazu auch die notwendige liebevolle Strenge. Als Aminas Mutter Teresa bewies Rosie Aldridge Leidensfähigkeit und stimmliche Kraft. Martin Walser (Alessio) eroberte mit seiner angenehmen Stimme zwar nicht Lisa, dafür aber das Publikum.
Streckenweise vergeblich mühte sich der im Belcanto versierte Guillermo García Calvo um adäquate Aufmerksamkeit des Staatsopernorchesters. Es gelangen zwar viele schöne Phrasen und so manches feine Piano, aber dort, wo Bellini ganz einfache Begleitung aus wenigen Akkorden gebaut hat, agierte das Orchester hörbar lust- und spannungslos wie unterfordertes Büropersonal am Freitagnachmittag. Das ist unnötig und ärgerlich, weil speziell in diesem Fach kein seltenes Phänomen, und trübt ein wenig den Glanz eines ansonsten ganz großen Abends.