Das Rachmaninow-Jahr ist vorbei, doch nach wie vor wollen alle Pianisten stets das Klavierkonzert Nr. 2 in c-Moll des Komponisten spielen. Mit seiner Mischung von Pathos und Sentimentalität, die ihre Wurzeln bei Tschaikowsky und der russischen Schule des 19. Jahrhunderts hat, ist das Werk das Populärste unter Rachmaninows vier Klavierkonzerten. Und weil es so zahlreiche Interpreten gibt, existieren auch entsprechend viele musikalische Deutungen. Jüngstes Beispiel: das Konzert des Orchestra della Svizzera italiana in Lugano mit der Solistin Anna Vinnitskaya unter der Leitung von Markus Poschner.

Die 41-jährige Russin studierte in Hamburg unter anderen bei Evgeni Koroliov und wirkt seit etlichen Jahren als Professorin für Klavier an der dortigen Hochschule für Musik und Theater. Als Interpretin pflegt sie liebend gerne das pianistische Repertoire von Prokofjew, Rachmaninow und Schostakowitsch. Große internationale Aufmerksamkeit gewann sie 2021, als sie mit den Berliner Philharmonikern unter Kirill Petrenko an den Salzburger Festspielen, beim Lucerne Festival und in der Philharmonie de Paris auftrat.
Im Programmheft schreibt Vinnitskaya, dass sie das Konzert „einfach“ und gleichzeitig „mit einem Reichtum an Emotionen“ spielen will, und beruft sich dabei auf den Komponisten selbst. Tatsächlich existieren alte Tonträger-Aufnahmen aus den 1930er Jahren, auf denen Rachmaninow als Solist zusammen mit dem Philadelphia Orchestra unter Leopold Stokowski zu hören ist. Bei aller technischen Unvollkommenheit dieser (bei Naxos historical greifbaren) Einspielung ist dennoch zu erkennen, dass Rachmaninow sein eigenes Werk zwar mit großer Virtuosität, aber relativ nüchtern interpretiert hat. Dies ist auch der Ansatz von Anna Vinnitskaya. Im Unterschied etwa zu Yuja Wang, die „Rach 2“ mit ungestümem Temperament, demonstrativer Virtuosität und perkussiver Schlagtechnik angeht, oder Katja Buniatishvili, die das Sinnliche und Sentimentale des Werks betont, deutet Vinnitskaya Rachmaninows Virtuosität ganz unaufdringlich und dessen Sentimentalität ohne Zuckerguss. Dieser Ansatz funktioniert im Konzert prächtig und ist eine wohltuende Alternative zu vielen anderen gängigen Interpretationen.
Markus Poschner, seit 2015 Chefdirigent des OSI, zieht insbesondere als Bruckner-Dirigent die internationale Aufmerksamkeit auf sich. Mit seinem Bruckner-Orchester Linz (und dem Radio-Symphonieorchester Wien) hat er im Hinblick auf Bruckners 200. Geburtstag erstmals alle Symphonien des Komponisten in allen Fassungen eingespielt. Poschner begreift auch Rachmaninows Klavierkonzert als symphonisches Gebilde, bei dem der Solopart und die Orchesterstimmen ein dichtes musikalisches Geflecht bilden. Ein schönes Beispiel ist im ersten Satz die großartige Steigerung am Schluss der Durchführung, die in die triumphale Wiederaufnahme des Hauptthemas mündet. Leider forciert Poschner dabei das Orchester derart, dass man die Solistin, obwohl sie sichtbar das Letzte gibt, kaum mehr hört. Ein gelungeneres Beispiel ereignet sich gleich zu Beginn des zweiten Satzes, wo das lyrische Thema der Flöte und der Klarinette von entrückten Triolenfiguren des Klaviers begleitet wird.
Auch die vier Symphonien von Brahms hat Poschner auf Tonträger eingespielt, und zwar ausgerechnet mit dem OSI, wie um zu beweisen, dass ein Orchester weder aus Deutschland noch aus Österreich stammen muss, um eine gültige Brahms-Interpretation hervorzubringen. Auch im Konzert im Saal des LAC (Lugano Arte e Cultura) mit der Symphonie Nr. 4 in e-Moll realisiert Poschner seinen künstlerischen Ansatz, einen kammermusikalischen Blick auf diese Kompositionen zu werfen. Dazu passt eine mittlere Streicherbesetzung mit nur zehn ersten Violinen. Der erste Satz klingt dann in der konkreten Realisierung doch etwas dick, als hätte sich der Dirigent vom Rachmaninow-Modus noch nicht ganz befreit. Sinnlich in der Kontrastierung von Bläsern und Streichern kommt dann das Andante moderato daher, energiegeladen und rhythmisch präzise das Allegro giocoso. Im Schlusssatz, einer Passacaglia mit dreißig Variationen, gerät der langsame Mittelteil klanglich nicht ganz ausgewogen, während die energischen Schlussvariationen einen unaufhaltsamen Sog entwickeln, der erst mit dem trotzigen Schlussakkord zu stoppen ist.
Thomas Schachers Hotelkosten in Lugano wurden vom Orchestra della svizzera italiana übernommen.