So wie man bei musikalischen Ausgrabungen auf mitunter viele neue Namen und Merkwürdigkeiten stößt, so verlässlich verbindet der interessierte Zuschauer eine Person mit dem Wiederaufführen operaler oder instrumentaler Raritäten aus dem süddeutschen, speziell dem südwestdeutschen Raum um die Mannheimer Schule circa post 1740: Werner Ehrhardt. Zusammen mit seinem Ensemble l'arte del mondo bringt er seit Jahren in Leverkusen Entdeckungen auf die Bühne, von denen er in Zusammenarbeit mit Forschungsstellen – am prominentesten jener Schwetzinger als Außenposten der Heidelberger Akademie der Wissenschaften für die Hofmusik der dortigen Landen – Kenntnis und Material erhält.

Werner Ehrhardt © Reinhard Doubrawa
Werner Ehrhardt
© Reinhard Doubrawa

Dass diese Aufbereitung einige Zeit in Anspruch nehmen kann, zeigte die jetzige Präsentation von Joseph Aloys Schmittbaurs Hirten-Einakt-Operette Lindor und Ismene von 1776/77, einem der ersten deutschen Singspiele, deren Partitur Rüdiger Thomsen-Fürst herausgibt, der bereits 1999 wissenschaftliche Artikel zur Rezeption des Werks publiziert hatte. Dem Umstand geschuldet, dass der sehr alt gewordene Komponist und Instrumentenfertiger neben seiner Stellung in württembergischen und badischen Diensten ein kurzes Intermezzo als Domkapellmeister in Köln einlegte, wo er das Stück schließlich auch komponierte, ließ Ehrhardt abermals spielerisch und historisch fundiert Bande ins Rheinland ziehen. Sie leiteten zu einer beinahe das Maximum herausholenden, sehr hörenswerten neuzeitlichen Erstdarbietung beim Forum Alte Musik Köln.

Erschien das Libretto Julius von Sodens als dessen – merklicher – Erstling mit siebzehn Jahren bereits 1771 im Druck, charakterisierte der Verfasser seine Inspiration zu einer beliebten Auseinandersetzung mit einem berühmten Arkadien-Gemälde Nicolas Poussins wie folgt selbst: „Zwitter der Romantischen und Schäferoper“. Er beinhaltet eine pastorale Märchengeschichte, in der Lindor damit beschäftigt ist, sich am Grab seiner Geliebten Ismene vorzuwerfen, er habe sie auf der Jagd mit eigenem Pfeil und Bogen umgebracht. Erst als mal dessen Freund (Bellamis) vorbeikommt, wird er von dieser Gewissensbelastung befreit, erzählt er ihm doch, dass es in Wahrheit Bellamis' Mutter Armide war, die das Geschoss – ja, natürlich aus Eifersucht! – mit Zauberkraft auf Ismene gelenkt hatte. Blöderweise kann sie, die mittlerweile Reue empfindet, die Tote nicht einfach wieder zum Leben erwecken, dafür müsse Lindor erst selbst sterben. Sowieso aus Schmerz und dann noch entschlossener aus erlösender Hoffnung auf Zusammenführung gewillt, lässt er sich auf den Voodoo der Mörderin ein, scheidet dahin und ersteht gemeinsam ohne Gedächtnis- und Gefühlsverlust mit der Erwählten zu neuem Leben. Und damit es eine vollendete Pastorale ist, finden vorher auch Bellamis und dessen Angeschmachtete Naide wieder zueinander und taumeln ausgelassen im eigentlichen Glück Arkadiens unter der Freude der aus den Wäldern aufploppenden Hirtenclique gen bühnentrauten Sonnenuntergang.

Eine wirkliche Naturschilderung hatte es in der knapp achtzig minütigen Interpretation tatsächlich mit dem Wolkenbruch und Sprechtrichter-Auftritt Armides (Andra Prins, der solistische Alt für den Hirtenchor) gegeben, als barocke Windmaschine und Donnerblech den theatralischen Instrumentenkasten l'arte del mondos mit besonders schlagkräftigen Hörnern – sonst permanent akzentstarker Quell herzerquickenden, fruchtvollen Optimismus' – wirkungsvoll erweiterten. Die Bedienung dieser beiden Perkussionsgeräte übernahmen dabei die zwei Flötistinnen, deren originäre Stimmen selbstverständlich in keiner klassischen Pastorale fehlen dürfen und beispielsweise in der „Romanze“ zwischen Bellamis und Naide ihre freudigen Kuss-Affekte versprühten. Zu den körperlichen Bezeugungen von Liebe und Verzeihung vollumfänglich angespornt war Bellamis neben dem schön knackigen Tempo Ehrhardts (wie dankenswerterweise in allen schellen Arien) sowie dem in diesem Zustand stets verspielt-feurigen Orchester schließlich durch zweierlei: dem Wissen um seinen „Ausrutscher“ mit Mirmide und Schatz Naide. Sie musste ihren Vorwurf, Bellami habe sie über ein Jahr geghostet (Armide hatte ihn allerdings verstoßen), ziemlich hervorheben, hatte sie selbst nämlich ebenfalls einen kleinen Vorfall mit einem anderen Schäfer zu beichten.

Camilo Delgado Diaz und Anna Christin Sayn taten dies in ihrem charakterpaaridentifizierbaren Bewusstsein, sowohl lieblich selbstbestimmt als auch gemeinsam in den neckisch bis heikel verzierten Beiträgen das Spiel der kokettierenden, nachdrücklichen Versöhnung zu spielen. Natürlich – wie alle Solisten sinnfällig – mozartesk timbriert; Díaz von Beginn an wärmer, dafür bei erstem Einsatz noch mit kleineren technischen Haklern beim Gang in die Höhe sowie der Aussprache, Sayn dort metallisch-stumpfer, wohlig in der Mittellage, zierlich und im Verlauf mit immer stärkerem soubrettenähnlichen Touch. Passend, dass beide in der Artikulation zunehmend gefälliger und aufblühender wurden.


Sofort mit Koloraturleichtigkeit einnehmend präsent, gurgelmäßig blumiger, aber dennoch mit wandlungsreicher(!) Phrasierungsfähigkeit gestaltete Suzanne Jerosme die wiederauferstandene Ismene, auf die Benjamin Bruns als Lindor eine Grabrede nach der anderen hielt. Dies jeweils mit einer dramatischen, diktions- und deklamationsklaren Kontrast- und Betonungsgewandtheit, die einerseits trauernd streng und zunächst selbsmaternd den Wunsch zu sterben abdeckte, andererseits die Erlösungs- und Vereinigungszuversicht sowie in weicher Wortführung die Sehnsucht Ismenes Zärtlichkeit in sich trug. Ehrhardt und l'arte del mondo untermalten alles, wenn auch im Forte konzertant üblich etwas überdeckend, mit ihrem berüchtigten und für neue alte Töne – hier individuell-interessanten, mal sonderbar, mal profaneren Stils Schmittbaurs – erst recht verlangten Selbstvertrauen und Enthusiasmus. Sie machten verlässlich Lust, dieser Seltenheit Kölns, dem ersten Singspiel der Stadt, zu lauschen, und zugleich Vorfreude auf die nächste Ausgrabung.

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