Es gibt musikalische Schlüsselwerke, die einen über eine gewisse Zeit oder ein ganzes Leben begleiten, beeinflussen oder gar prägen. In meinem Fall ist das neben einigen weiteren Stücken Georg Philipp Telemanns dessen Donnerode, deren Uraufführung des ersten, damals einzigen Teils 1756 zunächst konkret zum Anlass des städtischen Mahntages am 11. März auf die Auswirkungen des schwersten Erdbebens in Lissabon am 1. November 1755 vermutet wurde. Doch sollte es der Hamburger Musikdirektor erst ein weiteres halbes Jahr später am 10. Oktober tatsächlich öffentlich vorstellen. Weil jenes solch großen Anklang gefunden hatte, wurde das Werk nicht nur zu einem der beliebtesten überhaupt, sondern neben dem durchaus auch musikhistorischen Einfluss im kommunikativen und kompositorischen Epochenwandel um einen zweiten Part zu Neujahr 1760 ergänzt.

Der Erfolg begründete die hier erneut anzutreffende Begebenheit, dass Telemanns Nachfolger Carl Philipp Emanuel Bach über zwanzig Jahre später – er führte die Ode seines Vorgängers ebenfalls auf – eine gleichnamige Arbeit mit starken Referenzen ablieferte. Diesmal vor dem Hintergrund einer Naturkatastrophe in Messina. Da eine direkte Gegenüberstellung wegen der verschollenen Bach-Noten – nur der Text liegt vor – ausscheidet, entschieden sich Vox Luminis mit seinem Leiter Lionel Meunier und das Freiburger Barockorchester bei ihrem nächsten Gemeinschaftsprojekt für die Paarung mit der Missa brevis in F-Dur Emanuels verehrt-berühmten Vaters sowie familiären Telemannbewunderers und -kumpels. Denn auch die Lutherische Kurzmesse wurde nur zu ganz bestimmten Tagen und besonderen Gelegenheiten in Leipzig gespielt; dem Ort, an dem Emanuel neben der Nachlassverwaltung auch funktional das Erbe Johann Sebastians antreten wollte, jedoch abgelehnt wurde.

Die Bach-Messe sollte dabei im abendlichen Programm beim Brüsseler BOZAR zuerst erklingen, doch tauschte Meunier die Reihenfolge ziemlich nachvollziehbar um, ergab sich aus dem sehr getragenen, milden, würdevollen Schlusschoral der Donnerode eine vom Duktus stimmige Überleitung zum weichen, lichten, ineinander schmiegenden „Kyrie“. Die Missa erzielte dadurch die Wirkung, direkt mit einer – trotz der reellen Exklusivität des Bachstücks – „normalen“ Messstruktur auf die lobpreisende Ehrfurchtsadresse des Telemannischen Auftrags zu reagieren. Außerdem ließ sich mit dem festlich entschlossenen „Cum sancto spiritu“ ein fast euphorisch-enthusiastischer Ausklang zelebrieren, der das Publikum sowie die Musiker selbst in die Pfingsttage verabschiedete.

Freilich begann bereits Telemanns Ode mit einer hör- und sichtbaren Feierfreude der Ensembles, die sich in den prächtigen Chören und generell beim FBO in (straffer wie eleganter) Elastizität, Rhythmik, tempomäßigem Zug, Plastizität und Vox-Luminis-höchstgeschätzter Verständlichkeit manifestierte. Bestachen sämtliche Vokalsolisten, eine zarte, höchst akkurat phrasierende Erika Tandiono, eine besonders farbtonlich und sprachklare Sophia Faltas, ein durch langsames Tempo und merkliche Bedacht angepasster Raffaele Giordani, ein sich im Register wohlig zurechtfindender Lóránt Najbauer und ein stets maximal souveräner Sebastian Myrus, in ihren Arien mit ausgenommen angenehmer Artikulation, hätte ich mir hinsichtlich instrumentaler Dramatik und Lautmalerei bloß etwas mehr Wucht erhofft. Wenngleich die gefundene Zurückhaltung auf die Gesamtbalance abgestimmt war, hätten manche Soloeffekte des Horns (Ricardo Rodriguez) und der elementaren Donner- und Bebenpauke (Rizumu Sugishita) an uraufführungsfestgehaltenem Ohnmachtseffekt sowie eingangs benanntem historischem Ausdrucks- und Verhältniswandel orientiert durchschlagender sein dürfen, so wie es beispielsweise Karel Mnuk und Jaroslav Rouček mit ihrem spitz-schneidigen Ansatz an der Clarine wunderbar vollführten.

Mit zweitem Horn Renske Wijmas (intonatorisch auch famos) beim die einzelnen Stimmenparts (in der FBO-Aufstellung identisch abgebildet) heraushebenden, sich in die Lobeswellen begebenden „Gloria“ und erwähnten Finale in Bachs figurativ fordernderer F-Dur-Missa erfüllte sich der Wunsch nach größerer instrumentaler Affektpräsenz dann völlig. Ebenso durch Gustav Friedrichsons markant ziehende Oboe in dem einen von Myrus farblich bestens und geschmeidig vorgetragenen „Domine Deus“ folgenden „Qui tollis“, das Viola Blaches Sopran durch schlichten, ästhetischen Stil, runder Ausgeformtheit und mustergültig „geheimer“ Atemtechnik veredelte. Das wiederum sublimierte William Sheltons Countertenor mit noch prägnanterer Betonungsartikulation auch ohne jeden Druck im „Quoniam“, welches Konzertmeister Péter Barczi gleichfalls gefühlvoll und virtuos saitlich sekundierte. Besonderer Barock damaliger Meister und ihrer heutigen.

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