Dass Sir John Eliot Gardiner keinesfalls nur ein Spezialist für Alte Musik und Chorwerke ist, betont er selbst immer wieder. So beschäftigt er sich seit langem mit den vier Symphonien von Brahms, die er nun u. a. in Hamburg zur Aufführung brachte. Mit dem Royal Concertgebouw Orchestra stand ihm ein glänzendes Orchester voller Solisten zur Verfügung, das seiner Vorstellung dieser Werke bis ins Detail folgte.
Dogmatisch ist dieser Dirigent nicht. Auf die Verwendung historischer Instrumente verzichtete er ebenso, wie er den Streichern gestattete, an manchen geeigneten Stellen das Vibrato einzusetzen. Gardiner möchte aber grundsätzlich vermeiden, dass über diese strenge und hochgebildete Musik Sauce gegossen wird, um sie genießbar zu machen und ihnen so ihre Ecken und Kanten zu nehmen. Und nicht allein dies ist ihm vortrefflich gelungen.
Es wären Seiten nötig, um recht zu würdigen, mit welchem Ernst und Respekt sich Dirigent und Orchester in diese wahrlich unnaiv komponierten Werke versenkt haben. Wollte man einen Begriff finden, mit dem sich fassen ließe, wie das Wesen der Brahmschen Symphonie-Tetralogie und das dieser zyklischen Aufführung trafen, so könnte er „sentimentaler Realismus“ lauten.
Dass Brahms dennoch nicht herbstlich-dunkelbraun, schwer, düster oder sogar steif klingen muss, sondern farbig und durchsichtig, hörte man schon zu Beginn der Dritten Symphonie, mit der dieser Zyklus eröffnet wurde. Die drei das Werk eröffnenden Akkorde trumpften nicht als gewalttätige Imponiergeste auf. Gardiner durchleuchtete vor allem den schillernden mittleren Vierklang bis in seine Einzeltöne hinein, was nicht allein reizende Farbwerte erzeugte, sondern vor allem seine Strahlkraft freilegte, die er auf alle Tonarten sendete, die im Kopfsatz von diesem Akkord aus erreicht werden. Das diesem „Leitmotiv“ direkt angeschlossene Hauptthema in den Streichern setzte sich nicht, wie leider so häufig, über den aus der Devise entwickelten Cantus firmus in den Bläsern hinweg, sondern bildete ein Teilstück eines Gerüstsatzes. Wegweisend für den ganzen Zyklus wurde Brahms von Beginn an als Kontrapunktiker vorgestellt. Und in dieser Art Kammermusik für großes Orchester wurden die Symphonien fast durchweg musiziert.
Andererseits täte man Brahms nach Gardiner auch Unrecht, wenn man ihm den Sinn für das Theatralische auch seiner Instrumentalmusik abspräche. In der Ersten Symphonie ließ der Dirigent darum in den chromatischen Gegenstimmen des Kopfsatzes nicht allein heftige Leidenschaften sich austoben, sondern gab ihnen in dem hinreißend vorgetragenen Oboensolo ein Subjekt. Dass alle vier Brahms-Symphonien für Gardiner einen vokalen Kern haben, und dass ihm die vielen solistischen Passagen von der menschliche Stimme inspiriert zu sein scheinen, belegte dann auch der Dialog zwischen Oboe und Klarinette kurz vor dem wieder heftig drängenden Schluss der Exposition. Dass diese Aufführung so großes Gewicht auf diese oft überspielten Details legte, vermied den Eindruck, hier werde absolute Musik gespielt. Nein, hier wurden symphonische Dramen inszeniert.
Den zweiten Abend eröffnete die D-Dur-Symphonie, in deren erstem Satz die Affekte, die am Abend zuvor den Kopfsatzes noch fast zerbersten ließen, ganz verfeinert nachklangen. Gardiner und das Orchester ordneten ihr Musizieren dem bei Brahms zum Gesetz erhobenen Kompositionsprinzip unter, aus dem sich niemals zu einer Gestalt verfestigenden Thema permanent Teilmotive herauszulösen, um daraus neue Gestalten abzuleiten. Die entfesselte Coda des letzten Satzes wurde zu einem Coup ganz eigener Art. Wenn das Hauptthema von den Violinen zu einem Treibemotiv umfunktioniert wurde und in den Hintergrund trat, hob Gardiner in den Bläsern einen selbständigen vierstimmigen Satz hervor, in dem vor allem die Tuba eine so nie gehörte eigene Rolle übernahm. Doch auch hier wurde nicht allzu Bekanntes nur ein wenig neu frisiert. Diese Coda erinnerte so an manchen Operetten-Schluss von Johann-Strauß – und erinnerte daran, wie sehr Brahms dessen Musik schätzte.
Gardiner versteht Brahms als einen Forscher und sieht in ihm vielleicht den ersten Historiker unter den Komponisten. Doch die Passacaglia der Vierten Symphonie erhielt unter seiner Leitung nichts Akademisches oder Archaisierendes. In diesem Finale, das den würdigen Schlusspunkt dieses Zyklus setzte, demonstrierten alle Beteiligten rückblickend auf das Ganze, dass alles, was Brahms von den Alten gelernt hatte, ihm grundeigen, zu seiner persönlichen Tonsprache geworden war. Die ersten neun Variationen ließ Gardiner sich schrittweise beschleunigen wie dies in den alten Vorbildern geschieht. Dann aber schob er die barocke Kulisse beiseite und entfernte sich über einen Mixtur-Satz und das berückend schön vorgetragene Flötensolo immer weiter weg vom Thema der Variationen. Wenn er dann im zweiten Teil der Passacaglia die zu Anfang deutlich herausgearbeitete Sarabande durch einen Ländler ersetzte, wurde einmal mehr deutlich, dass Gardiner so wie Brahms selbst, der Musik sehr viel mehr zutraute, als lediglich klug komponierte „tönend bewegte Formen“ zu gestalten.