Wenn Christian Thielemann an der Wiener Staatsoper dirigiert, strömt das Stammpublikum ins Haus wie die Katholiken zur Papstmesse. Wenn dann noch Günther Groissböck die groben Stiefel des Ochs auf Lerchenau gegen eine Papstsoutane und ein paar salbungsvolle wie stimmlich beeindruckende Worte tauscht, werden auch schwer zugängliche Werke wie Hans Pfitzners Palestrina zum Kassenschlager.
Palestrina (Entstehungsjahr 1915) ist die künstlerisch freie Vertonung einer Legende, wonach in der letzten Sitzung des Konzils von Trient (1563) das Verbot der polyphonen Kirchenmusik diskutierte wurde, da die Vielstimmigkeit der Deutlichkeit von Gottes Wort nicht mehr gerecht wurde; erst durch Palestrinas Missa Papae Marcelli soll der einflussreiche Kardinal Carlo Borromeo seine Meinung geändert haben. Pfitzner sah in dieser Legende wohl eine Analogie zu einer weiteren Zeitenwende der Musik, an der er sich selbst befand, und in welcher er als angriffslustiger Kontrahent von Alban Berg auftrat. Es liegt daher nahe, Palestrina als Manifest von Pfitzners konservativen musikalischen Überzeugungen und Synthese der ihn prägenden Einflüsse zu lesen.
Da Carlo Borromeo bei Pfitzner den rund vierzigjährigen römischen „Altmeister“ Palestrina dazu nötigt, eine Messe zu komponieren, die das Problem von Wort und Musik lösen soll, kann man ihn als eine Art Gurnemanz sehen, der seinen Palestrina-Parsifal anleitet, die Welt vor den Zwölfton-Ketzern zu retten, was auch den Papst beeindruckt. Man kann auch eine verdrehte Form der Meistersinger erkennen, in welcher die Merker als Konzilsteilnehmer über das Gute, Wahre und Schöne streiten, und Hans Sachs mit der Tenorstimme von Stolzing siegt.
Daher werden jene, die im Gezänk der Merker den Höhepunkt der Meistersinger sehen, und die dem knapp dreißig Jahre später komponierten Capriccio auch ohne Mondscheinmusik und Gräfin die Treue halten würden, an Palestrina Gefallen finden. Es hilft auch, wenn man klerikal auf phänomenal reimen kann und im festen Glauben lebt, dass Raritäten wie Palestrina notwendig waren, um Meisterwerke zum Thema Wort und Musik (wie eben Capriccio oder auch Hindemiths Mathis der Maler) entstehen zu lassen.
Wer sich hier nicht angesprochen fühlt, wird zumindest das filmmusikartige Vorspiel zum ersten Akt, dessen monumentales Finale oder die spannungsgeladene Rhythmik des Vorspiels zum zweiten Akt genießen. Auch die Charakterisierung von Gegensätzen mit Quarten und Quinten, die die Spannung halten, ist bestechend. Dies ist in der szenischen Ödnis der Inszenierung von Herbert Wernicke auch dringend nötig. Dieses Werk schreit nämlich nach einer Überzeichnung des kirchlichen Bühnenpersonals, das Pfitzner mit spitzer Feder charakterisiert hat, und das Wernicke anno 1999 viel zu harmlos umgesetzt hat, obwohl die Vita der Renaissancepäpste Inspiration genug geboten hätte.
Die Bühne beeindruckt zwar mit einer bühnenraumhohen Wandvertäfelung und zeigt den Chor hinter einer sich mittig öffnenden Orgel, doch beschränkt sich die Personenregie für die 39 solistischen Rollen auf Banalitäten: Patricia Nolz muss etwa als Palestrinas Schüler Silla so tun, als spielte sie Violine, und das wirkt buchstäblich vergeigt. Doch das schmälert ihre Leistung nicht, und das Zusammenspiel mit der ihr ebenbürtigen Kathrin Zukowski als Ighino bildet am Beginn des ersten Akts ein mehr als kompetentes Handlungsexposé.