Welch eine Trauer, ja welch eine Wut! Zu Beginn des Requiems von Kenneth MacMillan stürmt das Corps de ballet wie eine Phalanx auf die Bühne, die Tänzer recken die Fäuste in die Höhe, schütteln sie fassungslos – MacMillan fand für seine Verzweiflung und seinen Schock angesichts des plötzlichen Todes seines Freundes John Cranko ein eindrucksvolles Entree.

Cranko war 1973 unerwartet auf dem Rückflug von einer erfolgreichen USA-Tournee „seines“ Stuttgarter Balletts gestorben – er war erst Mitte vierzig und hatte bereits ein Lebenswerk vollbracht: das Stuttgarter Ballettwunder, wie es ein amerikanischer Kritiker formulierte. MacMillan schuf drei Jahre danach für das Stuttgarter Ballett einen Nachgesang und folgte damit genau der Musik, die er sich dafür ausgesucht hatte: Gabriel Faurés Requiem, das dieser zum Tod seiner Eltern komponiert hatte. Mit einem schmerzvollen Orchesterakzent beginnt diese Totenmesse, doch was dann folgt, ist nicht so sehr ein aufbegehrerisch wütendes Dies irae, sondern ein eher ruhiges, dem ewigen Schlaf gewidmetes Werk, gleichwohl eine Trauermusik – und genau diese Gratwanderung vollzieht MacMillans Choreographie. Nach dem Aufbegehren am Beginn – und die Tänzer des Stuttgarter Balletts, für die dieses Ballett geschaffen wurde in Erinnerung an ihren „Meister“ Cranko – lassen keinen Millimeter zwischen ihren Körpern und verdeutlichen so grandios den Zusammenhalt, der allein Kraft zum Durchhalten bringt.
Was folgt, ist über weite Stecken eine grandios in Tanz umgesetzte Dichotomie zwischen Reglosigkeit und neuer Bewegung. Immer wieder werden die Tänzerinnen von den Tänzern getragen, als wären sie erstarrte Skulpturen ihrer selbst, und doch finden sie immer wieder zu neuem Leben – mal in der Gruppe, mal als Paar, mal vereinzelt in Gedanken. Wie Elisa Badenes im vierten Satz des Stücks ein solches tänzerisches „Zwiegespräch“ mit sich selbst gestaltet, das zugleich ein aufmerksames Beobachten der Welt um sie herum ist, ist schmerzlich-verloren und tröstend zugleich. Desgleichen, wie sie wie eine leuchtende Kerze in die Höhe ragend auf den Händen ihrer Partner steht, als bräuchte sie diese tragende Stütze gar nicht, ist von überwältigender Schönheit und voller Ausdruck – Ausdruck zwischen überwundener Trauer und Zuversicht auf das Kommende.
Ähnlichen Zwiespalt drückt Friedemann Vogel aus, wenn er am Boden zu suchen scheint – neue Kontakte, neue Partner, neues Leben? Man weiß es nicht, er schafft es, diese Zwischenbereiche in seiner Körperhaltung auszudrücken.
Doch MacMillans Requiem ist kein Schautanz der Solisten, obwohl seinerzeit alle „Stars“ des Stuttgarter Balletts daran beteiligt waren und in einer Momentaufnahme ganz ruhig verharren, als skulpturale Einheit des ganzen Balletts. MacMillan schuf eine Choreographie für das ganze Ballett. So bilden die sich vereinzelnden Paare, die immer wieder zusammenfinden, jedes für sich eine grandiose Ausdruckskraft, die nie nur Entsagung und Entsetzen ausdrückt, sondern stets auch Hoffnung, wie sie in Faurés Musik anklingt. So heißt der letzte Satz denn auch In Paradisum.
Auch in John Crankos Ballett Initialen, wenige Monate vor seinem plötzlichen Tod uraufgeführt, gibt es eine Art Standbild der Solisten. Doch während sie sich bei MacMillan ängstlich um Schutz suchend aneinander pressen, blicken sie bei Cranko als Gruppe gelöst in die Weite, in eine Zukunft, die ihnen gewiss erscheint – und es doch, wie der Tod Crankos kurz danach zeigte, nicht war. In diesem Fall sind es vier Protagonisten, denn Cranko schuf zu diesem Zeitpunkt, als er spürte, dass er in Stuttgart „seine“ Balletttruppe aufgebaut hatte, seinen vier „Stars“ Paraderollen – Rollen, in denen jeder genau sein Wesen im Tanz zeigen konnte, das Cranko ja so gut kannte. So steht im vierten Satz „E.“ für Egon Madsen, einen seiner Freunde – und Cranko hat das Ballett ja auch dezidiert für seine „vier Freunde“ kreiert. Der Tänzer entwickelt auf der Bühne jene quirlige Lebendigkeit, die diesen Tänzer ausmachte – und immer noch ausmacht; er hat jetzt für die Wiederaufnahme das Stück mit den Tänzern von heute einstudiert und dabei deutlich gemacht, wie er im Programmheft im Gespräch betont, dass es nicht darum ging und geht, dass die heutigen Tänzer genau in die Fußstapfen ihrer ursprünglichen Vorgänger schlüpfen sollten. Jeder sollte vielmehr aus dem Geist der Choreographie sein eigenes Stück schaffen, und Matteo Miccini macht das mit einer solchen Freude, Eleganz, Sportlichkeit und Spielfreude, als wären die Schritte und Sprünge für ihn geschaffen. Dasselbe gilt für Anna Osadcenko, die genau die Eleganz trifft, die Cranko für „seine“ Birgit Keil im zweiten Satz tänzerisch erdacht hat – zeitlos wirkende Klarheit, federleichte Körperhaftigkeit wie nicht von dieser Erde –, und doch ihre ganz eigene persönliche Prägung auf die Bühne bringt.
Vielleicht am schwersten hatte es Elisa Badenes, die die Rolle von Marcia Haydée übernommen hat. Für Haydée hatte Cranko den langen poetischen dritten Satz des Klavierkonzerts ausgewählt und dabei alle emotionalen Wendungen der Musik in Bewegung umgesetzt. Elegant wie eine Kerze steht Badenes von den Armen der Partner getragen in der Luft; selbst wenn sie sich kaum bewegt, ist sie voller Ausdruckskraft. Mit den übrigen drei Tänzern hat Cranko deren Herkunft aus dem klassischen Ballett verdeutlicht, für Haydée hat er eine Tanzspezies sui generis kreiert und Badenes zeigt, wie man diese Rolle heute, ein halbes Jahrhundert nach der Uraufführung, mit ganz eigenem Leben gestalten kann. Sie ist nicht Marcia, wie das „M.“ über diesem Satz nahelegt, sie ist „E.“ – Elisa, die diese Rolle zu ihrer eigenen gemacht hat.
Adhonay Soares da Silva belässt es allerdings weitgehend bei der zugegeben stupend getanzten virtuosen Brillanz, die Zwischentöne bleiben eher unterbelichtet, doch auch sie gehörten zur Tänzerpersönlichkeit eines Richard Cragun.
So hat Ballettdirektor Tamas Detrich mit diesen beiden Stücken eine würdige Kombination zur Erinnerung an den großen Cranko auf die Bühne gebracht, allerdings dem Publikum mit den beiden Stücken auch zwei Choreographien präsentiert, die jede für sich schon abendfüllend wären. Was Elisa Badenes, die in beiden Stücken wesentlichen Anteil hat, an diesem Abend auf die Bühne bringt, ist bewundernswert.