Der Mond scheint sehr hell. Er scheint nur auf Salome, der Rest der Frankfurter Bühne ist in nächtliches Dunkel gehüllt. Sie ist Dreh- und Angelpunkt der Inszenierung – es umgibt sie eine rätselhafte Aura, zusätzlich verstärkt von ihren exzentrischen Kostümen. Es wird klar: Diese Frau ist ein Mysterium. Statt an die klischeereiche Aufführungshistorie Salomes anzuknüpfen, versucht sich Barrie Kosky von dem misogynen, antisemitischen Bild Salomes als männerfressende Femme Fatale zu lösen und sie stattdessen als Figur ganz im Ausleben ihrer Wünsche, Triebe und sexuellen Verwirklichung darzustellen.
Salome ist eine verwöhnte Göre, dickköpfig und egoistisch. Ihre Eltern reden unentwegt auf ihre Tochter ein, deren trotzige Reaktion Abgründe auftut. All ihr Fokus richtet sich zuerst auf die Stimme des Propheten, dann auf seinen Leib und seinen Blick. Jochanaan singt vom „Samen der Schlange“ und Salome wälzt sich in entsetzlichem Erregen auf dem Boden. Es ist eine geradezu monströse Triebhaftigkeit, von der sie sich leiten lässt.
Während der kompletten Oper bleibt alles im Dunkel, nur das Spotlight scheint auf einzelne Personen. Die Nebenrollen dagegen singen aus dem Off. Diese radikale Reduktion lässt sowohl Oscar Wildes Stück als auch die Strauss'sche Musik in neuem Licht erscheinen und verleiht ihr zusätzliche Durchschlagskraft. Kosky selbst sagt: „Man kann diese Musik nicht illustrieren und sollte es auch nicht versuchen.” Dennoch sind Sehen und Hören essenzieller Bestandteil seiner Interpretation. Stets sehen die Personen etwas, oder sollen etwas nicht ansehen. Und auch Kosky entscheidet, was der Zuschauer sehen und nicht sehen darf und bedient so seinen Voyeurismus.
Doch was bleibt übrig, wenn dieser Geschichte ihr Orientalismus, die dekadente Opulenz und damit einhergehend jegliche visuelle Ausstaffierung entzogen wird? Für Kosky ist dies ganz klar: Salome ist eine Liebessgeschichte, wenn auch eine zutiefst perverse. Salome ist verliebt in Jochanaan. Sie liebt seinen Leib, seinen Mund, seine Augen – sie liebt und hasst ihn zugleich.
Es ist eine Geschichte über die Symbiose von Eros und Thanatos – einer dekadenten Verbindung von Liebe und Tod. In ihrem Verlangen, das Geheimnis der Liebe zu ergründen, begibt sie sich in verstörend, albtraumhafte und teils hysterisch entrückte Daseinszustände. Die Oper wird so zum Varieté der Grausamkeiten und sexuellen Perversionen, durchsetzt von Metaphern und Symbolen.
Der Tanz der sieben Schleier gerät zur absoluten Verweigerung. Statt Herodes Männerfantasien zu befriedigen, evoziert Kosky Bilder von Freudscher Kastrationsangst und sexuellen Perversionen und vom „Normalen“ abweichenden Sexualpraktiken, wie sie in Krafft-Ebings Psychopathia Sexualis – von Masochismus bis Nekrophilie – beschrieben werden und während der Décadence und des Fin de Siècle zelebriert wurden.