Während der Ouvertüre wird das Thema des Abends in einem raffinierten Video des Bühnenbildner-Duos Hannah Oellinger und Manfred Rainer exponiert: Eine junge Sängerin und ein junger Mann treffen sich in einer Bar und verlieben sich ineinander. Da kommt ein reicher Galan, offeriert der Frau einen teuren Drink und schleppt sie ab. Sehnsüchtig blickt die Frau dem Geliebten nach, wehrt sich aber nicht wirklich gegen ihre Entführung. Wenn die Handlung der Operette beginnt, sind die Akteure zwanzig Jahre älter geworden. Die junge Frau ist jetzt Rosalinde, unglücklich mit dem Wiener Geldadeligen Gabriel von Eisenstein verheiratet. Und der junge Mann von damals ist Dr. Falke, der in der Bar von Eisenstein gedemütigt und mit einer Fledermaus-Maske lächerlich gemacht wurde.

Für die Inszenierung von Johann Strauss‘ Operette Die Fledermaus am Opernhaus Zürich zeichnet die österreichische Regisseurin Anna Bernreitner verantwortlich, die schon an verschiedenen Spielstätten mit experimentierfreudigen Arbeiten auf sich aufmerksam gemacht hat. Sie zeigt das Stück als eine psychologische Studie über Traum und Wirklichkeit: In der Jugend haben die Menschen Träume und Sehnsüchte, wenn sie dann etabliert sind, arrangieren sie sich mit der Wirklichkeit und ergeben sich in ihr vermeintliches Schicksal.
Zweitens beleuchtet Bernreitner das Stück klar aus einer feministischen Perspektive. Es sind die beiden Hauptdarstellerinnen Rosalinde und ihre Kammerzofe Adele, die sich mit der tristen Alltagsrealität nicht abfinden wollen. Im Prinzen Orlofsky, einer Hosenrolle mit ausgeprägten Neigungen zur Geschlechterdiversität, finden sie einen Verbündeten – oder eben eine Verbündete. Am Schluss triumphieren die Frauen über die Männer: Rosalinde zeigt sowohl ihrem Mann Eisenstein als auch ihren Verehrern Dr. Falke und Alfred, mit dem sie einst in einer Band aufgetreten war, die kalte Schulter. Und Adele lässt sich ihre Ausbildung zur Künstlerin nicht vom Gefängnisdirektor Frank, der dafür amouröse Gegenleistungen fordert, bezahlen, sondern von Orlofsky.
Die optische Hauptattraktion der Zürcher Neuproduktion bilden das Bühnenbild und die Kostüme. Im ersten Akt symbolisiert ein graues Wohnhaus den ebenso grauen Ehealltag von Eisenstein und Rosalinde, und im dritten Akt steht ein von Neonlicht ausgeleuchteter Ausnüchterungsraum für die Stunde der Wahrheit nach durchzechter Nacht. Im mittleren Akt dagegen erleben wir eine fabelhafte Gegenwelt, in der die Figuren ihre sonst unterdrückten Neigungen und Sehnsüchte hemmungslos ausleben können. Oellinger und Rainer zeigen eine Schlaraffenland-Insel samt kitschigem Vulkan, orangen Palmen, einer Riesenmuschel und einer Schildkröte, die als Kühlbox für die Getränke dient. Noch viel bunter sind die vom Mode-Designer Arthur Arbesser entworfenen Kostüme, in denen Chor und Tänzer stecken. Sämtliche Klischees der aktuellen LGBT-Bewegung werden hier, durchaus mit Augenzwinkern, bedient. Für Normalos ist der Zutritt quasi verboten.
Die Besetzung Rosalindes mit der südafrikanischen Sopranistin Golda Schultz ist eine Wahl, die den Nagel auf den Kopf trifft. Als Sängerin, die immer wieder über die Benachteiligung von Schwarzen und Frauen im klassischen Kunstbetrieb spricht, bildet die Rolle einer von ihrem Mann im Goldenen Käfig einer Luxusvilla eingesperrten Ehefrau reichlich Identifikationsmöglichketen. Bei der Masken-Party von Orlofsky tritt sie denn nicht als ungarische Gräfin, sondern als Sängerin auf, wozu der Text ihrer hinreißend gesungenen Csárdás leicht abgeändert werden muss.
Matthias Klink als Gabriel von Eisenstein ist in dieser Inszenierung nicht wie üblich der große Frauenheld, sondern eine durch unmäßigen Champagner-Konsum zunehmend bemitleidenswerte Figur. Der Dr. Falke von Yannik Debus kommt etwas gar weich und sensibel daher und eignet sich als Drahtzieher und Rächer des Geschehens nicht wirklich. Der Tenor Andrew Owens als Musiker Frank wäre von seinem Stimmfach her eigentlich als Rosalindes Liebhaber prädestiniert, wird aber von der Regie in dieser Funktion etwas zurückgebunden. Ruben Drole gibt den Gefängnisdirektor Frank als erfrischend komische Figur. Eine strahlende Erscheinung ist die Schweizer Sopranistin Regula Mühlemann als Adele, die mit ihrer hellen Stimme und ihrem jugendlich-kecken Temperament für einige Glanzpunkte sorgt. Und Marina Viotti schält den nonbinären Charakter des Prinzen Orlofsky mit größtem Vergnügen heraus.
Leider erleidet der dritte Akt der Fledermaus massive Eingriffe, die dem Charakter einer Operette zuwiderlaufen: Das Libretto des Schlussakts wurde von der Autorin Patti Basler komplett umgekrempelt. Kernstück ist die Streichung des Gerichtsdieners Frosch und die Hinzufügung der drei Sprechrollen Skuld, Verdandi und Urd. Die drei Frauen fungieren als Nornen (wie in Wagners Götterdämmerung) und deuten das Geschehen in gesellschaftlicher und psychologischer Hinsicht. Diese Interpolationen sind nicht nur unnötig und lehrmeisterlich, sondern stören den Fluss der Handlung empfindlich.
Während das Wienerische in der Inszenierung keine nennenswerte Rolle spielt, ist es im Musikalischen allgegenwärtig. Der Schweizer Dirigent Lorenzo Viotti, der mit seinen 35 Jahren schon eine steile Karriere hinter sich hat, führt das Orchester der Oper Zürich standfest durch die zweieinhalb Stunden dauernde Premiere. Und all die unsterblichen Couplets, Duette, Terzette und Ensembles der Protagonisten erklingen in einer Art, als ob die Zeit seit der Wiener Uraufführung der „Fledermaus“ im Jahr 1874 stillgestanden wäre. Einzig bei der hineingeschmuggelten Ouvertüre zum dritten Akt in einem frechen moderneren Stil wird man aufgerüttelt und dann durch die besagten Nornen in die Gegenwart hineingeholt.

