Eine große Zahl der Musiktheater-Werke von Hans Werner Henze ist seit 1952 in München aufgeführt worden, gut zehn davon an der Bayerischen Staatsoper. Vielfältig waren hier die Freundschaften, die Henze etwa zum Komponisten Karl Amadeus Hartmann, dem Maler Werner Gilles oder dem Filmregisseur Volker Schlöndorff pflegte, seine künstlerischen Erfolge und seine kulturpädagogische Arbeit, Aufbau und Leitung der Münchener Biennale.

Zur 1983 bei den Schwetzinger Festspielen erstmals gespielten Oper Die englische Katze hatte der englische Schriftsteller Edward Bond das Libretto nach einer von dem berühmten Zeichner Grandville illustrierten Erzählung Honoré de Balzacs verfasst; Ken Bartlett besorgte die deutsche Übersetzung. 2000 wurde sie in der Landeshauptstadt erstmals am Gärtnerplatztheater gezeigt; 25 Jahre später kam nun eine Neuproduktion des Opernstudios der Bayerischen Staatsoper im Cuvilliés-Theater heraus.
Mit Edward Bond hatte Henze schon bei seiner vorigen Oper We Come to the River erfolgreich zusammengearbeitet. War diese ein flammendes Plädoyer gegen den Krieg, so erscheint die Tierparabel Die englische Katze auf den ersten Blick unpolitisch, eher harmlos-amüsant. Als der ältliche Kater Lord Puff, Präsident einer vegetarisch lebenden Königlichen Gesellschaft zum Schutz der Ratten (K.G.S.R.), die junge Katze Minette aus dem ländlichen Umland heiratet, die für Nachwuchs sorgen soll, sich jedoch in den draufgängerischen Kater Tom verliebt, endet die Geschichte tragisch und wird zur bösen Satire.
Puffs Neffe Arnold, der auf das Erbe seines Onkels spekuliert, beobachtet, wie der attraktive Straßenkater der jungen Minette schöne Augen macht, wittert seine Chance, den Ehebund zwischen Minette und Lord Puff zu verhindern. Nach einem Scheinprozess auf den Dächern der Stadt wird Minette von den anderen Katzen ertränkt, Tom hinterrücks erstochen, nachdem er gerade eine große Geldsumme geerbt hat. Die gefühllose, heuchlerische und nur auf den eigenen Vorteil bedachte Katzen-Gesellschaft kommt ungeschoren davon. Scheinheilige Diskussionen um ihre wohltätige Mission, der vermeintliche Einsatz für die Ratten, die ursprünglichen Feinde der Katzen, sind nur Vorwand für persönliche Bereicherung. Immerhin ist Louise, eine von den Katzen zum Spendensammeln aufgezogene junge Ratte, so pfiffig, sich am Ende die prall gefüllte Spendenbox der K.G.S.R. unter den Nagel zu reißen und damit in Sicherheit zu verschwinden: „Ich habe mit Katzen gelebt und kenne ihre Tricks“.
Henze nutzt in seiner neoklassisch anmutenden Musik viele traditionelle Formen wie Cavatine oder Duett, Walzer oder Ländler, geschickt verfremdet; er gestaltet daraus Szenen von oft kammermusikalischer Transparenz. Typisch sind Charakterisierungen wie die Zither für das Landmädchen Minette, die Orgel für Lord Puff oder das Heckelphon, eine tiefe Oboe, für den hinterlistigen Arnold. Sechzehn Streichern sowie den Holz- und Blechbläsern stehen reichliches Schlagwerk sowie kleine Orgel und Pianoforte gegenüber, so dass ein perkussives, immer wieder auch lärmendes Klangbild im kleinen Theaterraum entsteht. Mit den hervorragenden Orchestersolisten des Staatsorchesters formte die Dirigentin Katharina Wincor ein sich schnell der Handlung anpassendes, facettenreiches Klangbild, schafft es aber nicht immer, dieses zum Kammerspiel zu dämpfen, so dass der feine Witz und altmodische Sprachfluss vieler Dialoge in der Geräuschszenerie verloren geht.
Christian Andre Tabakoff hat sich bei seiner Bühne von antiquiert dunklen Täfelungen und Eichentönen englischer Landhäuser inspirieren lassen, wo die Society tagt. Das Katzenproletariat jagt sich auf dunklen Blechdächern, vor der Silhouette des nächtlichen London. Gekleidet sind alle wie in den 60er Jahren mit bunten Anzügen, Schlaghosen, Pelzkrägen und Spazierstockflasche; Polaroidfotos halten die Hochzeitsgesellschaft fest. Dass die Katzengesellschaft von Anfang an völlig menschlich aussieht, ist Christiane Lutz’ Regiekonzept, Hintergründiges durch Überzeichnung deutlich zu machen und die Parallelen zur heutigen menschlichen Gesellschaft herauszustellen, in der Doppelmoral, Scheinheiligkeit und Heuchelei wie im 19. Jahrhundert gegenwärtig sind.
Große Freude bereiteten stimmlich wie im szenischen Spiel die jungen Sängerinnen und Sänger des Münchner Opernstudios. Fabelhaft unschuldig und unverbogen von der Arroganz der Katzengesellschaft leuchtete die Minette von Seonwoo Lee aus dem Ränkespiel heraus. Mit Armand Rabot als Tom hatte sie einen adäquaten Partner, der mit ausgesprochen schönem Timbre nachhaltigen Eindruck hinterließ; wunderbar ihr gemeinsames Liebesduett. Iana Aivazian bezauberte mit ihrer glasklaren, anrührenden Stimme als Waise Louise. Michael Butler war ein uriger, stimmakrobatischer Lord Puff, wohlklingend Daniel Vening als verschlagener Arnold. Hohe Stimmkultur auch bei Lucy Altus als Minettes quirlige Schwester Babette, in Doppelrollen auch von Zhe Liu, Samuel Stopford, Dafydd Jones, Elene Gvritishvili, Nontobeko Bhengu, Jess Dandy und Bruno Khouri.
Schon im ersten Akt der Premiere waren befreiende Lacher zum scharfzüngigen Libretto selten, nach dem Akt der Applaus kurz. Einige Plätze blieben nach der Pause leer. Auch im zweiten Akt sprangen Funken aus der Fabel kaum über. Immerhin finden doch zeitgenössische Opern von Brett Dean, Thomas Larcher oder Toshio Hosokawa gerade in München regen Zuspruch. Umso unverständlicher, dass in Bachtracks Termin-Datenbank für das kommende Jahr, zu Henzes 100. Geburtstag, weltweit noch keine weitere seiner szenischen Opern angekündigt ist; gerät seine Moderne der 80er Jahre etwa aus der Mode?

