„Dramatische Symphonie mit Chören, Soli und Prolog in Chorrezitativ“ nennt Hector Berlioz 1839 die von Shakespeares berühmter Tragödie angeregte und Niccolo Paganini gewidmete Partitur Roméo et Juliette, die weder auf der Opernbühne noch im Konzertsaal so recht Platz finden konnte. In der Besetzung steht sie irgendwo zwischen Beethovens Neunter und Mahler; wie kein Zweiter sprengt Berlioz Gattungen, um aus ihnen regelrechte Zwitterwesen zu machen. Während seine sechs Jahre jüngere Damnation de Faust ein Mix aus Oper und Oratorium ist, hat er zu seiner ausgefallenen Roméo-Adaption angemerkt, „dass es weder eine konzertante Oper noch eine Kantate ist, sondern eine Chorsymphonie“.

Robin Ticciati © BR | Severin Vogel
Robin Ticciati
© BR | Severin Vogel

Bereits 1827 war Berlioz in Berührung gekommen mit dem Stoff, als eine englische Schauspieltruppe in Paris gastierte und das Publikum in den Bann Shakespeare’scher Dramen zog. Nach einer Vorstellung von Romeo and Juliet war er außer sich: „Shakespeare, der so unerwartet über mich kam, traf mich wie ein gewaltiger Blitzschlag, dessen Strahl mir mit überirdischem Getöse den Kunsthimmel erschloss“, schrieb er in seinen Memoiren. Zudem war es der Beginn einer überspannten Liebe zur Darstellerin der Juliet, der irischen Schauspielerin Harriet Smithson, die nach einigen Jahren unglücklich wieder geschieden wurde.

Das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, zusammen mit dem Chor des Bayerischen Rundfunks, einstudiert von Peter Dijkstra, hat das umfangreiche Werk bereits mehrfach auf das Programm gesetzt; so dirigierte 1985 Colin Davis, damals Chef des Münchner Orchesters und Doyen der Berlioz-Renaissance, das Werk im Münchner Gasteig. Vierzig Jahre später stand jetzt Robin Ticciati, in London geborener Dirigent mit italienischen Wurzeln, am Pult von Chor und Orchester, nun in der Isarphilharmonie.

Überraschenderweise lässt Berlioz die beiden Protagonisten selbst gar nicht zu Wort und Gesang kommen. Während er die Stimmen des Liebespaares ganz dem Orchester anvertraut, rückt eine große Sängerschar in den Mittelpunkt dieser Symphonie, die, als Doppelchor gegeneinander ansingend, die zwei verfeindeten Familien Montague und Capulet verkörpert. Mit einer rein orchestralen Introduktion eröffnet Berlioz das Werk, malt im Allegro fugato den blutigen Streit zwischen den verfeindeten Familien aus, spielt fantasievoll mit aparten instrumentalen Paarungen wie Horn und Violoncello.

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Julie Boulianne und Valentin Thill
© BR | Severin Vogel

Danach erst setzt ein Petit Chœur ein, hier eine 16-köpfige Gruppe des BR-Chores, beschreibt in knappen Versen des französischen Librettisten Émile Deschamps den Inhalt von Drama und Symphonie, oft von den Harfen begleitet oder geradezu kammermusikalischen Einwürfen der Blechbläser. Er berichtet als Prolog vom „alten, bereits begrabenen Hass“, der aus der Hölle wieder aufgetaucht sei, von Roméo, der traurig um den Palast irrt. Eine Altistin malte die Gedanken darüber aus, über die Wallungen erster Liebe, die keiner vergisst, „glückliche Kinder mit flammenden Herzen“. Die frankokanadische Mezzosopranistin Julie Boulianne, wunderbar auch in den Chorklang eingebunden, fand hier die notwendige Wärme in der Stimme, um im Strophenlied die innerliche Zerrissenheit des jungen Paares zu beschreiben. In einem wirbelnden Scherzetto porträtierte Valentin Thill in schlanker tenoraler Koloratur das Auftauchen der Fee Mab, die, „leichte und luftige Botin“, nachts von „Kanonensalven und Degengefechten“ träumt, ein junges Mädchen zum Ball geleitet und schließlich „wie der Blitz in die Lüfte“ entschwindet.

In einem großen, zumeist instrumentalen Abschnitt wurde Roméos Traurigkeit geschildert, mischten sich von fern Klänge des Festes bei den Capulets, flog spritzig und hitzig die Fee Mab vorüber, steigerte sich glühende Hoffnung auf erfüllten Liebeswunsch. Eine atemberaubende Szene, die zum schönsten und lyrischsten gehört, was Berlioz überhaupt geschrieben hat. Und die Musiker des BRSO folgten Ticciati bis in die einzelnen Instrumentengruppen hinein, beherzt in der Ausbalancierung von präziser Motorik und tumultöser Fantastik. Agiles theatralisches Temperament, aufschäumender Glamour und dynamische Feinstabstufungen selbst in den Triangelschlägen sorgten für eine Plastizität, bei der alles sich zum großen Tongemälde zusammenfügte.

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Robin Ticciati und William Thomas mit dem BRSO
© BR | Severin Vogel

Im großen Finale werden die beiden Familienclans durch Pater Lorenzo ausgesöhnt; der Bassist William Thomas brachte seine sonore Stimmfülle wohlklingend ein für die riesige Aufgabe. Opulente Steigerungen ins Fortefortissimo und immer wieder Berlioz’ typische, bizarr fantastische Klangfarben lassen im Schwur alle ihre Rachegefühle begraben: feierlicher Schluss einer Grand opéra geradezu!

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