Die Konzertserie A, mit der das Königliche Concertgebouw Orchester seit Jahren ein treues für neue Musik aufgeschlossenes Publikum an sich zu binden weiß, wird es wohl nicht mehr lange geben. Das KCO will in Zukunft Werke des 20. und 21. Jahrhunderts nur zusammen mit klassischem Repertoire programmieren. Konzerte mit ausschließlich zeitgenössischer Musik bleiben damit auf der Strecke. Nach dem gestrigen sehr gelungenen Konzertabend mit fünf spannenden Kompositionen neuer und neuester Musik, ausgesucht und dirigiert vom diesjährigen Ernst von Siemens Musikpreisträger Sir George Benjamin, ist das doppelt bedauerlich.

Das reine Orchesterprogramm ohne Solisten war schlichtweg genial zusammengestellt. Es begann mit Choral, Op.8 (1970-72) für Bläser, Schlagzeug und Kontrabass, einem Werk von Benjamins Landsmann und gutem Freund Oliver Knussen (1952-2018). Knussen sah seinen Choral als eine Art Ives'scher Vision „in der ich mehrere Leichenzüge sah, die auf einen Punkt in der Ferne zuliefen. Der Titel bezieht sich sowohl auf den Einsatz des großen Blasorchesters in einzelnen Chören (die sich im Laufe des Stücks verschieben), als auch auf den Choral, der... im Wesentlichen aus der Verzierung einer einzigen, immens langsamen Folge von vier Akkorden besteht.“ Tief röhrende Blechbläser mit zwei Tuben setzten den amorphen Beginnzustand. Wie aus dem Nichts ertönte nach langem Suchen ein reiner Dur-Akkord, woraus in Amsterdam mit hohen Trompeten und Röhrenglocken eine schier außerirdisch anmutende Planetenmusik entstand. Gustav Holst lässt grüßen! Nun erst fiel ein zusätzlicher Chor von vier Hörner auf, der ganz rechts außen hinter den Kontrabässen postiert war. Der Ton des Abends war gesetzt.
Die Bläsersinfonien von Igor Strawinsky folgten direkt darauf ohne erneuten Applaus, da Benjamin den kurzen Umbau auf der Bühne sitzend verfolgte. Das 1920 entstandene einsätzige Konzertwerk für Holz- und Blechblasinstrumente hatte Strawinsky dem Andenken an den 1918 verstorbenen Claude Debussy gewidmet. Impressionistische Farbwechsel und eine meditative Ruhe kennzeichnen das Stück, das sich unter Benjamins präzisem unaufdringlichen Dirigat von Ungemach stimmungsmäßig nach vollendeter Verzückung entwickelte.
Benjamins 2021 vollendetes Konzert für Orchester machte vor der Pause den Zirkel rund. Benjamin schrieb es in Erinnerung an Oliver Knussen, mit dem ihn 40 Jahre lang eine enge Freundschaft verband. „In gewisser Weise versucht dieses Werk, eine Spur der Energie, des Humors und des Geistes heraufzubeschwören, die mich mit meinem Freund verband.“
Das Stück in Kammerorchesterbesetzung – die Partitur ist dem Mahler Chamber Orchestra gewidmet – begann in erwartungsvoller Stille. Daraus hervor tönte ein Klarinettensolo und wieder Stille. Es überraschte ein energiereiches Tubasolo; vielleicht das Knussen-Thema? Danach entwickelte das langsame Klagelied sich zu chaotischer Wildheit, wie ein aufbrausender Novembersturm oder ein feuerspeiender Vulkan. Trompetensignale und stotternde Geigen, gestopfte Trompeten im Dialog ausbalanciert auf leise sattem Streicherteppich mit der Tuba als Grundton. Benjamin zauberte mit zerfiedertem Klang, der die ganze Breite des Orchesterspektrums bestrich. Mit am auffälligsten waren die leidenschaftlichen Violinen, die am ruhigen Schluss des Werks fast das letzte Wort hatten und ganz plötzlich war der spektakuläre Spuk vorbei.
Nach der Pause stand das 2019 vollendete Spira für großes Orchester von Unsuk Chin auf dem Programm. Benjamin hatte sich schon vor langer Zeit für die farbenprächtige Musik der Koreanerin eingesetzt, die ganz andere Qualitäten besitzt als seine eigene. Zuallererst fällt die Dominanz der Schlagzeuginstrumente ins Auge. Die Resonanz von zwei oft mit Streicherbögen angestrichenen Vibraphonen durchzieht als eine Art Sphärenklänge das ganze Werk. Chin baut meisterhaft Spannungen auf: erst ohrenbetäubend laut, dann wieder geheimnisvoll leise. Schlagende Türen und zerbrochene Vasen, Gewitterfliegen und Nachtfalter und eine ganze Palette fantasiebeflügelnder Naturphänomene passierten Revue. Der Orchesterklang zog sich zusammen und atmete heftig wieder aus. Erst am Ende kehrte Ruhe ein mit einer langen Zeit glühenden Flirrens, das in schier endlos anmutende Stille mündete.
Zum Abschluss spielte das KCO Lontano von Györgi Ligeti, uraufgeführt 1967 in Donaueschingen. Das Stück ist „mikropolyphon, aber auch diatonisch und besteht aus unzähligen Unisono-Kanons.“ Durch Benjamins Beschränkung auf flirrende Statik wirkte Lontano eindimensional und monolithisch. Bilder von monumentalen Eisschollen oder Gebirgswänden drängten sich auf. Eine dicke und breite in sich vielschichtige Klanglava ergoss sich vom vollbesetzten Podium in den Saal, dessen erdrückender Wirkung man sich kaum entziehen konnte. Am Ende herrschte ehrfürchtig einstimmige Stille im Saal.