Liebe ohne Leiden – das gibt’s beim Schlager, aber nicht bei Massenet, und auch nicht in der Realität: Bekanntlich beruht Goethes Briefroman auf einer wahren tragischen Geschichte, die 1774 den Nerv der Zeit traf und immer noch berührt, zumal Massenets Werther-Vertonung ein geschickt gemachtes Libretto zugrunde liegt. Darin spielt Charlotte die heimliche Hauptrolle und ist nicht bloß die ferne Geliebte, die man bei Goethe nur durch Werthers Augen sieht.

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Matthew Polenzani (Werther)
© Wiener Staatsoper | Michal Pöhn

Geschickt gemacht ist auch Andrei Şerbans Inszenierung, die an der Wiener Staatsoper seit zwanzig Jahren erfreut und mit der Elīna Garanča in die Diven-Liga aufstieg. Ein riesiger, über einen Steg begehbarer Baum beherrscht das Bühnenbild von Peter Pabst und gibt nicht nur den vielen Auf- und Abtritten Struktur, sondern spiegelt auch die im Libretto angesprochen Liebe zur Natur (schließlich wünscht sich Werther, bei zwei Linden begraben zu sein). Zeitlich reist man in die Fünfzigerjahre, und nachdem das „Midcentury“-Design in den letzten Jahren einen wahren Boom erlebt hat, ist man hinsichtlich der Ausstattung vielleicht trendiger als bei der Premiere.

Clemens Unterreiner (Albert) und Kate Lindsey (Charlotte) © Wiener Staatsoper | Michal Pöhn
Clemens Unterreiner (Albert) und Kate Lindsey (Charlotte)
© Wiener Staatsoper | Michal Pöhn

Charlotte trägt ein weißes, elegantes Kleid und blondes Haar im Stil der Zeit und wirkt immer künstlich – so als sähe Werther nicht eine adrette junge Frau, die ihren Geschwistern eine bodenständige Ersatzmutter ist, sondern eine imaginäre Traumfrau aus Marilyn Monroe und Fürstin Gracia Patricia. Die obligate blonde Perücke trug diesmal Staatsopern-Faktotum Kate Lindsey und bewies einmal mehr, dass sie eine harte Arbeiterin und immer bestens vorbereitet ist. Trotz sängerischer wie schauspielerischer Perfektion ist Charlotte jedoch nicht ihre beste Partie; die Stimme wirkt hintergründig-dunkel bis kehlig auch dort, wo Simplizität gefragt ist.

In der Szene mit ihrer Bühnenschwester Sophie und im Finale mit dem sterbenden Werther kann sie aber ihre Liebe zu sorgfältig gestalteten Details ausleben, und so war man von der Leidenschaft, die sich da zwischen ihr und Matthew Polenzanis sterbendem Werther entfesselte, hingerissen. Polenzani ist nicht weniger Vollprofi als seine Kollegin, und das dürfte auch die Bühnenchemie zwischen den beiden fördern. Er kann auf eine beeindruckende Karriere zurückblicken, hat den Werther am Haus auch vor zehn Jahren gesungen, und gefällt noch immer. Nach einem verhaltenen Start steigerte er sich ab dem zweiten Akt rasch, und der Superhit „Pourquoi me réveiller?“ gelang ihm jedenfalls comme il faut. Darüber hinaus bewies er beeindruckende Durchschlagskraft, die unter der Stabführung von Bertrand de Billy auch notwendig war.

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Florina Ilie (Sophie)
© Wiener Staatsoper | Michal Pöhn

De Billy ist mittlerweile ein häufiger Gast am Haus; mit der aktuellen Werther-Serie feiert er sein bereits zehntes Opern-Engagement in nur zwei Saisonen, und zu diesem Jubiläum zeigte er sich in besserer Form als etwa zuletzt in der Zauberflöte: Die melancholischen Stellen hatten tatsächlich französische Eleganz (wozu auch hervorragend gespielte Violinen- und Cello-Soli beitrugen), und die Gefühlsausbrüche gerieten so explosiv, wie sich Werthers Verzweiflung im gegen sich selbst gerichteten Schuss entlädt. Das war hinsichtlich der Lautstärke allerdings öfters zu viel des Guten.

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Kate Lindsey (Charlotte) und Matthew Polenzani (Werther)
© Wiener Staatsoper | Michal Pöhn

Florina Ilie singt in dieser Serie erstmals die Sophie, und die Darstellung geriet äußerst überzeugend und sympathisch, auch sängerisch bot sie eine tadellose Leistung. Als gebürtige Rumänien fällt ihr Französisch wohl auch leichter als den anderen anderen, die hin und wieder Vokale und Betonungen recht frei interpretierten. Albert ist in dieser Inszenierung noch weniger Sympathieträger als sonst, und es wird klar, dass Charlotte in ihrer Ehe für ihre Minuten mit Werther büßen wird. In diese Partie fügte sich Clemens Unterreiner mit einer gewohnt soliden Leistung ein, während Hans Peter Kammerer Le Bailli wie einen zerstreuten Professor anlegte. Schmidt und Johann waren mit Matthäus Schmidlechner und Alex Ilvakhin so gut besetzt wie die Kinder der Opernschule talentiert sind.

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