Es ist wie bei vielen Leuchttürmen klassischer Musik: aller Anfang war schwer. Und als Franz Schubert 1827 seine musikverständigen Freunde zur Aufführung eines „Zyklus schauerlicher Lieder“ in seine Wohnung einlud, sollen die ersten zwölf Lieder des späteren Winterreise-Zyklus eher eine „düstere Stimmung“ hervorgerufen haben. Etwas begütigend meinte einer aus der Gruppe, dass ihm der Lindenbaum doch zusage – als einziges der zwölf neuen Lieder!

Aber Schubert ließ sich nicht beirren: „Mir gefallen diese Lieder mehr als alle, und euch werden sie auch noch gefallen.“ Von Wilhelm Müller, dessen Schöne Müllerin er vier Jahre zuvor vertont hatte, entdeckte er im Spätsommer weitere zwölf Gedichte. Mit diesen komplettierte er die Sammlung zur Winterreise. Müller hat die Vertonung nicht mehr kennengelernt; in Beethovens Todesjahr ist auch er gestorben.
Auch wenn Liedsammlungen nicht unbedingt Kassenfüller für Konzertveranstalter sind: Schuberts Winterreise ist wohl der Liederzyklus schlechthin, Dutzende von Tondokumenten füllen die CD-Regale der Musikhändler. Und viele prominente Sänger, Dietrich Fischer-Dieskau etwa, haben gar an die zehn Aufnahmen im Laufe ihres Lebens in den Liedkatalog gestellt. In der Allerheiligen-Hofkirche der Münchner Residenz präsentierten der Bassbariton Jochen Kupfer und der irische Pianist Finghin Collins eine wunderbar austarierte Fassung des Liederzyklus, die in der feinen Akustik des hohen Konzertraums noch zusätzlich an Statur gewann. An der Bayerischen Staatsoper München debütierte Jochen Kupfer bereits 2002 als Guglielmo in Così fan tutte. Zuletzt war er hier als Mannoury in Pendereckis Teufel von Loudon zu erleben. Als Ensemblemitglied des Nürnberger Staatstheaters singt er in Opern von Cavalli bis Prokofjew und demnächst den Amfortas in Parsifal. Finghin Collins gewann 1999 den 1. Preis des Clara Haskil Klavierwettbewerbs, zu dessen Juryvorsitzender er inzwischen ernannt wurde, und gastiert weltweit solistisch wie als hochgeschätzter Kammermusikpartner.
Die optimale Konzertumgebung nutzten Collins und Kupfer, der auch bei Fischer-Dieskau studiert hat, ohne dessen oft grellen wie manierierten vokalen Ausdruck zu übernehmen, mit enormer Gestaltungskraft. Kupfer begab sich dabei überzeugend in die Rolle des Erzählers, der vordergründig die Situation der zerbrochenen Liebe des Wanderers reflektiert, die die Mutter wohl wegen eines reicheren Liebhabers unterbunden hat. Er setzte dazu souverän seine wunderschön dunkel timbrierte Basstiefe ein, das Ringen um das Ziel des Reisenden auszumalen, war mit weich modulierter Höhe auch in der Lage, die Verletzung im hintersten Herzenswinkel des einsamen Leidtragenden freizulegen.
Schon in der einleitenden Gute Nacht kostete er intensiv das feine Wort-Tonverhältnis aus: Erinnerung an Blumenstrauß und Liebe, Mondschatten als Gefährte, stiller Schritt unter dem Fenster und doch „an dich hab ich gedacht“. Schmerz, Leugnung und Resignation kamen mit individuellen Schattierungen von Jochen Kupfer; da kostete er auch den Zynismus aus, wenn zur sprunghaft sich drehenden Wetterfahne auf dem Haus der reichen Braut geblickt wird.
Beim Lindenbaum spielten beide in der herzlichen Volksliedmelodie Behagen aus, das trösten konnte: träumend Augen zumachen, doch ebenso kalten Wind spüren, Ruhe suchen, mit der Collins so eindringlich im Nachspiel aufhorchen ließ. Alle Symbole – letzte Blätter an den Bäumen, Wasserflut, gefrorener Fluss, sogar das sonst Liebesbriefe annoncierende Posthorn – verkündeten eigentlich Einsamkeit und Hoffnungslosigkeit, erklangen subtil in vokaler wie pianistischer Klanggebung. Auch wenn der Wanderer schließlich im Irrlicht bekennt, dass es für ihn kein Ziel mehr gibt, folgt er in Ruhe dem Wegweiser, lässt sich nicht im totenstillen Dorf entmutigen, wo nur Hunde schnarchen und Menschen wohl nur hinter Fenstern bleiben. Der stürmische Morgen zerreißt graue Wolkenfetzen.
Mit Suggestivkraft und erstaunlicher Fülle an Schattierungen begegneten Kupfer und Collins schließlich wieder einem Lebenden, dem Leiermann: eine kraftvoll selbstbewusste Introduktion fortdauernden Drehens von Collins, fahle Töne von starren Fingern und monotoner Melodie von Kupfer: jeder beschrieb aus einer anderen Perspektive diese Schlüsselszene, die schließlich den inneren Impuls fand, weiter zu wandern: Leben, Lieder und Leier fortschreiten zu lassen. In genau richtigem Maße wog Finghin Collins seinen Part ab zwischen zurückgenommenem Begleiten und eigenständigem Akzentuieren. Jochen Kupfers Textverständlichkeit und Wandlungsfähigkeit: hier passte einfach alles wunderbar zusammen. Beide konzertierten in schlüssiger Lesart, die Seelenlandschaft dieser Winterreise zu öffnen: von nachtschwarzer Einsamkeit zu raureifglitzernder Lebens-Neugier.